Wie man Probleme (nicht) löst
Wer vor einem Problem steht, hat grundsätzlich zwei Optionen: Das Problem angehen und lösen. Oder ihm aus dem Weg gehen. Ein typischer Amerikaner entscheidet sich in der Regel für Variante eins, selbst wenn die Gefahr, dabei Fehler zu machen, höher ist. Der typische Deutsche hingegen entscheidet sich in den meisten Fällen für Variante zwei. Er fragt zuerst: Was können wir verbieten, damit das Problem uns nicht mehr stört?
Deutschland: Vollkaskomentalität
Wir Deutsche sind stolz, wenn wir etwas verhindern können, am besten alles gleichzeitig: Atom- und Kohlekraftwerke, den Transrapid und TTIP. Die Durchsetzung eines Dieselfahrverbotes feiern wir wie eine zweite Mondlandung. Und wenn ein Verbot nicht durchsetzbar ist? Dann fragen wir: Wie kann ich mich dagegen versichern? Eigentlich ist diese Vollkaskomentalität ein Erkennungsmerkmal für Menschen, die aus dem gestalterischen Leben ausgeschieden sind: Rentner, Beamte, EU-Kommissare. Man sieht sie atmen, aber für viel mehr legst Du die Hand nicht ins Feuer.
Es ist verstörend, dass inzwischen auch die vielzitierte künftige Elite Deutschlands lieber verwalten, verbieten und versichern will als gestalten. Laut einer aktuellen Studie des Beratungsunternehmens Ernst & Young liebäugeln fast 40 Prozent der hiesigen Studentinnen und Studenten mit einem „sicheren“ Job im öffentlichen Dienst. Egal ob angehende Juristen, Ingenieure oder künftige Managerinnen: am liebsten wollen sie in die Beratung und Prüfung bei Bund, Ländern und Gemeinden. Lieber ein Leben lang anderen auf die Finger schauen, statt selbst Hand anlegen.
Wären solche Leute vor 500.000 Jahren am Drücker gewesen, hätte sich die Sache mit dem Feuer aus brandschutztechnischen Gründen nie durchgesetzt.
Heute sind die Bedenkenträger überall. So verabschiedet sich Deutschland Jahr für Jahr aus weiteren Spitzengruppen globaler Wirtschaftsrankings. Im Gegenzug haben wir Deutschen uns zum Weltmarktführer im Verbreiten von schlechter Laune entwickelt. Die Angst vor Stammzellenforschung, Gentechnik, autonomem Fahren, Fracking, Kernenergie ist der deutsche Exportschlager schlechthin. Die Versicherungsindustrie freut‘s – denn ihr Markt boomt. Mein Lieblingsprodukt dieses Wirtschaftszweigs? Die Reiserücktrittsversicherung. Die ersten Worte, die ein deutsches Baby lernt: „Mama“, „Papa“, „Reiserücktrittsversicherung“ …
Und Sie kennen es wahrscheinlich selbst: Ein Südamerika-Abenteuerurlaub soll es 2020 sein, mit Dschungel-Trek, Bungeejumping, Koks-Degustationen und Krokodilstreicheln für die Kleinsten – aber keinesfalls ohne Reiserücktrittsversicherung! „Das wär‘ ja viiiiel zu riskant!“
USA: Die Pflicht, glücklich zu werden
Ganz anderes die Amerikaner. Die haben sogar ein deutsches Wort für unsere notorische Schwarzseherei übernommen: „The German Angst“. In den USA, wo ich derzeit lebe, macht man sich gern lustig über dieses präzise Erkennen des stets halbleeren Glases. In Amerika existiert eine grundlegend andere, grundsätzlich optimistische Problemlösungseinstellung: man packt an, oder versucht’s wenigstens mal!
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Es ist kein Wunder, dass die Glückskekse, die in vielen chinesischen Restaurants nach dem Essen gebracht werden, nicht in China erfunden wurden, sondern vor rund hundert Jahren in den USA. Chinarestaurant-Betreiber in San Francisco erkannten, dass die Amerikaner ganz versessen darauf waren, nach dem Essen mit einer optimistischen Botschaft verabschiedet zu werden – und machten etwas draus. Stellen Sie sich kurz vor, so etwas wäre in Deutschland erfunden worden: Du wischst dir grad noch die Sauerkrautreste vom Hosenbein, brichst dann deine Leberkäse-Semmel auf und findest einen Zettel, auf dem steht „Greif nie nach den Sternen, du erreichst sie sowieso nicht!“
Klar: Die Sicht auf die Welt und ihre Probleme kann von ihrer eigentlichen Beschaffenheit weit entfernt sein. Ist Amerika also tatsächlich „the land of opportunity“? Wie hoch ist etwa die Wahrscheinlichkeit, dass Sie es als Amerikaner einkommensmäßig in die oberen 20 Prozent schaffen, wenn sie in eine Familie hineingeboren wurden, die zu den Ärmsten gehört? Analysen zeigen: Paradoxerweise schneiden die USA im Vergleich zu Europa und speziell zu Deutschland deutlich schlechter ab.
Wenn sie in Amerika tatsächlich vom Tellerwäscher zum Millionär werden, dann oft nur, weil sie sich beim Tellerwaschen die Hand verbrühen und ihren Arbeitgeber über 35 Millionen Dollar verklagen.
Der „American Dream“ ist also ein Mythos. Für uns Deutsche ist er sogar „a German Nightmare“. Und obwohl auch viele Amerikaner wissen, dass sie einem Mythos aufsitzen, sind sie dennoch optimistisch(er). Gerade weil die gesellschaftlichen und sozialen Probleme in den USA oft größer sind als bei uns, entfaltet die Mentalität des immerwährenden „Strebens nach Glück“ („the pursuit of happiness”), die sogar Bestandteil der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 ist, ihre Wirkung: Amerikaner sind tatsächlich optimistischer. Weil es sozusagen die Pflicht eines jeden Amerikaners ist, glücklich zu sein. Könnte allerdings auch an den vielen Antidepressiva liegen, die die Leute dort einwerfen.
Es gibt viele, die meinen, solche Mentalitätsunterschiede hätten kaum Auswirkungen auf unsere Zukunft. Ich denke, das ist ein Trugschluss. Im Ernstfall können sie sogar über Leben und Tod entscheiden. Stellen Sie sich nur mal vor, die NASA fände heraus, dass in 14 Tagen ein gewaltiger Meteorit auf der Erde einschlägt und alles Leben vernichtet, sofern nichts unternommen wird. Wem würden Sie eher trauen? Dem typischen Amerikaner, der sagt: „So what? We’ll shoot it!“ Oder dem Deutschen, der angesichts der drohenden Apokalypse sein Klemmbrett hervorholt und fragt: „Haben Sie schon über eine Reiserücktrittsversicherung nachgedacht?“
Vince Ebert ist Diplom-Physiker, Wissenschaftskabarettist und Bestsellerautor. Sein Anliegen ist die Vermittlung wissenschaftlicher Zusammenhänge mit den Gesetzen des Humors. Seit 2004 ist er erfolgreich auf deutschsprachigen Bühnen unterwegs, ab Herbst 2020 mit seinem neuen Programm „Make Science Great Again!“ (Tickets & mehr…).
Zurzeit lebt Vince Ebert für ein Jahr in New York und begeistert das Publikum dort mit seinem englischsrachigen Programm „Sexy Science“. Seine Bücher verkauften sich über eine halbe Million Mal und standen monatelang auf den Bestellerlisten. In der ARD moderiert er regelmäßig die Sendung „Wissen vor acht – Werkstatt“.
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Foto: Frank Eidel