Wie hält man Mitarbeitende über das Rentenalter hinaus?
In Deutschland gibt es aktuell etwas mehr als 21 Millionen Rentnerinnen und Rentner, und jedes Jahr überschreiten knapp eine weitere Million Menschen die Schwelle zum Rentenalter. Im Jahr 2022, so das Statistische Bundesamt, arbeiteten ca. 19 Prozent von ihnen danach weiter. Zum Vergleich: Im Jahr 2012 waren es nur 11 Prozent der 65- bis 69-Jährigen.
Offensichtlich tut sich etwas: Viele ältere Menschen arbeiten heute freiwillig länger, als sie müssten (vor allem die Hochqualifizierten unter ihnen, die mit einer Erwerbstätigenquote von 74 Prozent deutlich häufiger am Erwerbsleben beteiligt blieben als alle anderen). Und auch immer mehr Unternehmen erkennen den Wert ihrer älteren Belegschaft: Sie haben Strategien entwickelt, um sie übers Rentenalter hinaus zu halten und zu binden.
Mitarbeiterbindung post Rente
managerSeminare VerlagWer damit vor Jahren begann, als längst absehbar war, dass die Pensionierung der geburtenstarken Jahrgänge ein regelrechter Exodus werden würde, ist heute, da man kein Strategiegespräch mehr führen kann, ohne das Wort „Fachkräftemangel“ zu hören, klar im Vorteil:
Die Horrorstorys völlig verzweifelter HR- und Lernabteilungen, die nicht wissen, was sie jungen Berufseinsteigern beibringen sollen, weil das ganze Wissen der Firma kürzlich in Pension gegangen ist, kommen vornehmlich aus Organisationen, die bis vor Kurzem mit wachsender Begeisterung ‚teure ältere Mitarbeiter‘ in die Frührente geschickt haben.
Unternehmen hingegen, die die Themen „Age Bias“, „lebenslanges Lernen“ und „Mitarbeiterbindung“ stets zusammen gedacht haben, konnten Strukturen schaffen, die ihnen auch heute den wachsenden Pool an hervorragend ausgebildeten, leistungsfähigen und erfahrenen Rentnerinnen und Rentnern erschließen. Sie setzen darauf, ihnen Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten anzubieten, die sie in einer veränderten Lebenssituation unter Berücksichtigung neuer Bedürfnisse „abholen“. Welche sind das?
1. „Langsam, vergesslich, unflexibel“
Wer diese Strukturen aufbauen will, muss damit beginnen, die (oft unbewusste) Diskriminierung älterer Menschen, auch „Ageism“ genannt, zu unterbinden. In Vorurteile im Arbeitsleben erklären Michel E. Domsch, Désirée H. Ladwig und Florian C. Weber, was das konkret bedeutet:
Alte Menschen gelten oft als langsam, vergesslich, weniger produktiv oder unflexibel. Rund 12 Prozent der über 55-Jährigen geben an, schon einmal altersbedingte Diskriminierung erlebt zu haben.
Und insbesondere bei der Arbeitssuche haben sie es oft schwerer: Bei rund 60 Prozent der älteren Arbeitnehmer dauert es länger als ein Jahr, bis sie einen Job finden. Hinzu kommt: Wer wegen seines Alters diskriminiert wird, dessen Wohlbefinden leidet nachweislich. Auch schwächt die Diskriminierung sein Selbstwertgefühl, seine Gesundheit, seine Motivation und seine Produktivität. Und: Umfragen zeigen, dass viele Unternehmen kaum etwas gegen Ageism tun.
Nur wer zuerst anerkennt, dass Menschen länger lernfähig, leistungsbereit und motiviert sind, wird ihr Potenzial im Rentenalter erkennen. Und nur wer diese Wertschätzung auch strategisch zum Ausdruck bringt, wird die Stellschrauben im eigenen Personalbereich so drehen können, dass mehr Menschen sich für eine Weiterbeschäftigung interessieren.
Erfolgspotenzial ältere Mitarbeiter
Carl Hanser VerlagDie größten Hebel finden sich dann bei den Arbeitszeitregelungen, den Weiterentwicklungs-, Trainings- und Wissensanwendungsmöglichkeiten.
2. Flexible Arbeitsregelungen
Flexible Arbeitszeiten oder die Möglichkeit, in Teilzeit oder aus der Ferne zu arbeiten, können für Rentner, die sich nicht völlig aus dem Berufsleben zurückziehen wollen, sehr attraktiv sein. Wer in Rente geht, hat nämlich neben der lang ersehnten „Ruhe“ oder den täglichen Stündchen, die man zum lang aufgeschobenen „Durchlesen“ seiner Literaturklassikersammlung reserviert hat, vor allem eins: Lust, mit der vielen Zeit, die sie nun haben, etwas Gescheites anzufangen.
Nicht wenige Rentner fallen nach ein paar Wochen in ein Loch, eine kleine Sinnkrise, in der sie das Gefühl haben, ‚nicht mehr gebraucht‘ zu werden.
Und Personalabteilungen, die das wissen, können, sofern sie den Kontakt weiter pflegen oder gar aktiv auf eine Weiterbeschäftigung hinarbeiten, diesen Umstand nutzen, um Rentner in Teilzeit oder saisonal anzustellen, in Projekte zu involvieren. Denn: Weiterarbeiten ist im Rentenalter nicht nur erlaubt, sondern kann auch attraktiv sein.
Was kann die Personalabteilung tun? Personalabteilungen sollten Richtlinien und Rahmenbedingungen schaffen, die flexible Arbeitszeiten, Teilzeitarbeit oder Fernarbeit ermöglichen – für Menschen vor und im Rentenalter. Klare Kommunikation und die Bereitstellung der erforderlichen Technologie sind dabei von zentraler Bedeutung, denn was Pensionäre sicher nicht gebrauchen können, sind mühsame Diskussionen mit unflexiblen HR-Mitarbeitenden oder IT-Hürden. Weiterhin sollten Personaler nicht davor zurückschrecken, ehemalige Mitarbeitende zu kontaktieren, um in Erfahrung zu bringen, ob sie sich eine Rückkehr – auch ohne vorherige Vereinbarungen in obiger Form – vorstellen können. Nicht nur Thyssenkrupp hat damit offenbar gute Erfahrungen gemacht.
Wissenswert: In Dänemark begegnet man dem Fachkräftemangel seit Jahren mit dem Hinweis auf das „graue Gold“ auf dem Arbeitsmarkt – gemeint sind damit Rentnerinnen und Rentner, die gezielt von Firmen umworben werden, weil sie eben kein „altes Eisen“ sind und der Staat auch Hürden zur Weiterbeschäftigung abgebaut hat.
Dänemark hat deshalb eine der höchsten Beschäftigungsquoten von Menschen im Rentenalter.
Der Deutsche Gesetzgeber hat davon gelernt: Seit 2023 können hier nun auch Frührentner so viel arbeiten und zur Rente hinzuverdienen, wie sie wollen, ohne bei den Leistungen Abstriche machen zu müssen. EY hat ein paar nützliche Hinweise dazu (und zum richtigen „Offboarding“, das die Türen offen hält) publiziert. In vielen HR-Abteilungen ist das aber noch nicht angekommen: Ein Großteil der Personaler geht weiterhin stereotyp davon aus, dass ältere Menschen nichts weniger wollen, als in ihre Firmen zurückzukehren.
3. Schulungs- und Entwicklungsmöglichkeiten
Hartnäckig hält sich auch das Gerücht, dass ältere Menschen nichts mehr lernen können und wollen. Viele Personalerinnen und Personaler sprechen hinter vorgehaltener Hand von „verkalkten“ älteren Mitarbeitenden, die schwer weiterzubilden und zu motivieren seien – und dieses Vorurteil sehen sie auch immer wieder in Einzelfällen bestätigt.
Die Hirnforschung aber weiß: Menschen lernen immer weiter, selbst im Greisenalter. Und auch wenn es manche Blocker gibt, die durchaus mit dem Alter zusammenhängen (meist aber vor allem mit der körperlichen und intellektuellen Mobilität bzw. den Präferenzen Einzelner), ist ein erheblicher Anteil von Menschen im Rentenalter nicht nur „rüstig“, sondern weiterhin lernbegierig und deutlich länger körperlich und geistig „fit“ als noch vor wenigen Jahrzehnten.
Ein passendes Angebot von Weiterbildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten (Schulungsprogramme, Workshops oder Bildungsressourcen) hilft diesen Ruheständlern, sich selbst und anderen gegenüber relevant zu bleiben, sich wertgeschätzt zu fühlen und sich „selbst in Gang“ zu halten.
Viele Unternehmen haben erkannt, dass engagierte und qualifizierte Arbeitskräfte unerlässlich sind. Indem sie verstärkt auch in die Weiterbildungsmöglichkeiten von Rentnern investieren, können sie von dem großen Wissensschatz profitieren, den diese Menschen mitbringen.
Umsetzung durch L&D: L&D-Abteilungen können maßgeschneiderte Schulungsprogramme und Mentoreninitiativen entwickeln und Ressourcen bereitstellen, um Menschen, die bald in Rente gehen, über Branchentrends auf dem Laufenden zu halten. Welche besonderen Herausforderungen dabei auf L&D Professionals warten und wie sie damit umgehen, lernen Sie hier (ENG).
4. Gesundheits- und Wellnessprogramme
Stichwort „rüstig“: Die Bereitstellung von Gesundheits- und Wellnessvorteilen wie Mitgliedschaften in Fitnessstudios, Wellnessprogrammen oder der Zugang zu Gesundheitsdiensten kann für Menschen, die bald in Rente gehen, aber ihr Wohlbefinden erhalten wollen, attraktiv sein. Viele von ihnen wollen nicht nur ihren Kopf vor „Verkalkung“ schützen, sondern auch den Rest ihrer Körperteile.
Der Fokus auf das Wohlbefinden der Mitarbeitenden hat im Laufe der Jahre zugenommen, und die Ausweitung dieser Programme entspricht einem ganzheitlichen Ansatz für die Mitarbeiterbetreuung. Ältere Mitarbeitende sind heute zwar länger gesund und fit, trotzdem nehmen Wehwehchen und gesundheitliche Probleme zu – und Mitarbeitende wollen sicher sein, dass sie in dieser Phase besonders gut aufgehoben sind.
Wer bereits in Rente ist, für den wiederum ist das mögliche Eingebundensein in ein hervorragendes Gesundheitspaket des (ehemaligen) Arbeitgebers womöglich ein Grund, doch noch einmal ein Engagement zu bedenken: Wer, so die Logik dann, wird im Alter schon ‚dafür bezahlt‘, fit und gesund zu bleiben?
Umsetzung durch die Personalabteilung: Die Personalabteilung kann Gesundheits- und Wellness-Initiativen fördern, den Zugang zu Fitnessprogrammen (auch für verdiente Rentner) ermöglichen und weitere Gesundheitsleistungen anbieten, um das Wohlbefinden der Mitarbeitenden passgenau zu unterstützen.
Beispiel: Johnson & Johnson ist seit Jahrzehnten bekannt für seine Wellnessprogramme. Deren Ansatz ist zwar nicht speziell auf Rentner zugeschnitten, wird aber immer wieder positiv hervorgehoben. Weitere Beispiele und Hinweise zum Thema (und zum „Reverse Engineering“ für HR-Abteilungen) finden Sie hier:
5. Programme für Mentorenschaft und Wissenstransfer
Die Ermutigung von Ruheständlern, als Mentoren zu fungieren oder an Wissenstransferprogrammen teilzunehmen, hilft dabei, Fachwissen an jüngere Mitarbeitende weiterzugeben und so Kontinuität und den Erhalt des institutionellen Wissens zu gewährleisten. Und weil ältere Mitarbeitende Mentorenschaft häufig als Gelegenheit betrachten, „etwas“ (Wissen, Expertise, Erfahrung …) weiterzugeben, muss hier seitens der Personal- und Lernabteilungen nicht einmal ein großer Motivations- oder Verhandlungsaufwand betrieben werden.
Wie jung und alt gut zusammenarbeiten
Harvard Business ManagerDa ältere Mitarbeitende obendrein die Gegenwart und Zusammenarbeit mit jüngeren Kollegen sehr schätzen und sich intrinsisch wünschen, zur Entwicklung künftiger Talente beizutragen, ist das eine Win-win-Situation auch zwischen den Generationen. Speziell entwickelte Mentoringprogramme können, sollte doch etwas mehr Überzeugungsarbeit nötig sein, sogar langfristig nach ihrem Mentor benannt werden, wenn dieser das möchte, oder in Partnerschaften mit anderen Organisationen (Universitäten, Schulen usw.) breiteren Einfluss gewinnen.
Der deutsche Industriegigant Bosch leistet sich dafür gar ein institutionalisiertes System in Form einer Tochtergesellschaft namens ‚Bosch Management Support‘, die registrierte Experten in Rente für zeitlich befristete Beratungs- und Projektaufgaben in den Konzern vermittelt.
Was laut ManagerSeminare „1999 mit 30 Mitarbeitenden begann, ist mittlerweile ein Expertenpool von über 2.400 Beschäftigten weltweit“. Weitere interessante Beispiele finden sich auf den Seiten des Bundesverbands Initiative 50plus, die Unternehmen und Organisationen für ihren vorbildlichen Umgang mit „grauem Gold“ auszeichnet.
Umsetzung durch die Personalabteilung und L&D: Die Personalabteilung kann Mentorenprogramme fördern und so einen strukturierten Ansatz für den Wissenstransfer gewährleisten. L&D kann Ressourcen für die Weitergabe von Wissen bereitstellen und hervorheben, dass ältere Arbeitnehmer aufgrund ihrer Erfahrung besonders wertvoll sind, wenn es um das Anleiten neuer Mitarbeitender geht – und um die Nachhaltigkeit von Expertise in Organisationen.
Wer früh damit beginnt, den Kontakt zu Expertinnen und Experten im eigenen Unternehmen auch dann aufrechtzuerhalten, wenn sie es verlassen (was sich ohnehin immer anbietet), kommt schnell auf eine ansehnliche Kartei, die auch Rentnerinnen und Rentner beinhaltet, die perfekt für Mentoringaufgaben geeignet sind.
Der Mentoring-Kompass für Unternehmen und Mentoren
SpringerBeispiel: Neben vielen anderen hat Boeing seit Jahrzehnten ein viel beachtetes Mentoringprogramm, das sich auf den Wissenstransfer konzentriert und weit über reine Interna hinausgeht. Es ist zwar nicht ausschließlich für Rentner gedacht, zeigt aber die Bedeutung des Wissensaustauschs.
6. Exkurs: Führungskräfte und Vermächtnisaufbau
Der „Aufbau eines Vermächtnisses“ spielt für viele leitende Angestellte, die sich an der Schwelle zum Rentenalter bewegen, eine große Rolle. Diese Leute sind der Organisation oft über Jahrzehnte verbunden, und kaum jemand von ihnen will sie im Streit verlassen oder ihr nichts hinterlassen – im Gegenteil.
In diesem Wunsch liegen gleich mehrere Mitarbeiterbindungsanreize, die HR-Abteilungen nutzen können:
Die Idee, auch nach dem ‚offiziellen‘ Ausscheiden aus dem Unternehmen einen bleibenden Einfluss zu hinterlassen oder einen wichtigen Beitrag für das Unternehmen zu leisten, ist nämlich intrinsisch und wird im Unterschied zu materiellen Benefits, die gegen Ende des Arbeitslebens oft eine eher untergeordnete Rolle spielen, in erfolgreichen Partnerschaften und Arbeitsverhältnissen immer stärker.
Sie umfasst also Elemente, die über den unmittelbaren persönlichen Nutzen hinausgehen. Um diese Potenziale zu erkennen, müssen Personalabteilungen vor allem eins tun: den Austausch mit solchen Personen suchen, so früh wie möglich und fokussiert auf Wünsche, Ziele und bisher „Liegengebliebenes“ bei der beruflichen Sinnstiftung. Das „Reverse Engineering“ erweist sich hier als valables Werkzeug: Nur wer weiß, was Rentnerinnen und Rentner (und die, die das bald sein werden) noch wollen, kann sich überlegen, wie diese Ideale ggf. zum eigenen Angebot passen könnten oder wie man ein solches für sie erstellt. Hier sind einige Leseempfehlungen dazu: