Rostige Routinen
Anhand der sich ankündigenden Gasknappheit in großen Teilen Europas (und dem politischen Umgang damit) lässt sich gut studieren, wie weit wir auf dem Weg von der Industrie- zur Wissensgesellschaft schon gekommen sind. Erinnern wir uns: Die Wissensgesellschaft sollte sich dadurch auszeichnen, dass viel gedacht wird, was an dieser Stelle und in diesem Zeitalter immer bedeutet, dass etwas Neues gedacht wird. Denn Routinen sind die Streitmacht der Industriegesellschaft, das Nach- und Ausdenken hingegen die Legionen der neuen Zeiten.
Für die Routinen sind, das habe ich letzten Monat ausgeführt, die alten Manager zuständig. Sie müssen darauf achten, dass die Regeln eingehalten werden und dass alles läuft wie geplant. Für das Nachdenken hingegen sind wir selber verantwortlich. Das Problem, das dabei im Alltag auftritt, liegt auf der Hand:
Wem es in der Wirtschaft um nichts anderes geht als um Effizienz und Optimierung, der ist in den alten Zeiten und ihren Instituten, der Fabrik und dem Büro, besser aufgehoben.
In Netzwerken, wo man erst mal zeigen muss, was man anders und besser kann als andere, sich also kenntlich machen, ein Original sein muss, haben solche Systemerhalter nichts verloren. Sie scheitern sogar an ihnen – deshalb wollen sie sie ja auch mit allen Mitteln verhindern. Optimieren, das heißt für diese Leute, dass sie in der eigenen Suppe schwimmen, in einem tiefen Teller, genau genommen, über dessen Rand sie nicht blicken können. Dadrin bleiben sie und strampeln heftig in der Brühe herum.
Andere wiederum versuchen etwas, denken nach, und das hat Tücken, denn man kann sich irren. Das ist Unternehmertum, eine Sache, die sehr modern ist.
Die Vorstellung, dass die Wissensgesellschaft erst mit der Digitalisierung in die Welt gekommen sei, ist also falsch. Das unternehmerische Denken ist ein Kind der Moderne, groß geworden in jenem langen Prozess der Aufklärung, der seit Jahrhunderten in Gang ist. Der Feind in dieser Schlacht heißt Schicksal, Beharrung, ständisches Denken und die mit all dem verbundenen Routinen – die Vorstellung also, dass alles so bleiben muss, wie es ist. Und es ist noch mal ein wenig vertrackter: Denn alles, was revolutionär ist, „das Ständische hinwegfegt“ – wie Karl Marx und Friedrich Engels das in ihrem „Kommunistischem Manifest“ 1847 festhielten –, wird selbst nach einer gewissen Zeit in sein Gegenteil transformiert.
Transformation kennt also zwei Richtungen: Eine progressive, bei der sich durch Denken und Originalität, Kenntlichmachung und Andersartigkeit das entwickelt, was wir Innovation, Erneuerung, nennen. Und eine rückwärtsgewandte, bei dem sich das Neue in jenen institutionellen Altersstarrsinn verwandelt, der uns heute nicht nur aus Konzernen und durch politische Parteien mit ihren Wurzeln im 19. Jahrhundert entgegentritt. Aus der industriellen Revolution ist hier längst eine industrielle Station geworden, ein fester Zustand, bei dem mehr verwaltet wird als nach vorne gedacht.
Die Richtungsfrage der Transformation stellt sich auch für ihre populären Teilbereiche, die oft mit dem Großen und Ganzen – dem Umstieg von der Industrie- auf die Wissensgesellschaft – verwechselt werden oder für einige sogar einzig dafür stehen, zum Beispiel die Energiewende.
Der gasgetriebene Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, nein, den Westen und die Demokratien an sich, hat längst nicht bei allen zur Einsicht geführt, dass es nicht genügt, nun ein bisschen Energie zu sparen.
Das ist, in Zeiten wie diesen, zwar vorübergehend nötig, aber wir brauchen jetzt vor allem den unternehmerischen, progressiven Spirit, der nach vorne denkt – und Technologie, Forschung, Experiment und Idee an die Stelle verzagter Verzichtspositionen setzt. Die sind, auch angesichts der Bedürfnisse von Milliarden Menschen, nichts weiter als eine Transformation nach hinten, früher hätte man auch mal gesagt: reaktionär. Das ist es tatsächlich im Wortsinn.
Der neue grüne Deal und wie er gelingen kann
Brand einsWer nicht agiert, unternehmerisch denkt, verliert.
Das in Westeuropas Wohlstandsnationen – und gerade im deutschsprachigen Raum – so beliebte Moralisieren ist die Ultima Ratio der Hilflosen. Wer sich aber nicht den Tyrannen unterwerfen will, muss demokratische Strukturen ernst nehmen und deshalb fortschrittlich denken, nach vorne gehen. Es eben nicht so machen wie bisher, so wie immer, sondern besser. Hinterm Tellerrand geht’s weiter.
Nächstes Mal: Fehlerkultur – Wer nur wissen will, was er schon weiß, irrt sich gewaltig.
Wissenswertes über den Autor
Wolf Lotter ist Buchautor, Mitgründer von brand eins und Transformationsexperte – ein Thema, das auch seine Bücher prägt, zuletzt: Zivilkapitalismus (2013, Random House), Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen (2020, Edition Körber) und Strengt euch an. Warum sich Leistung wieder lohnen muss (2021, Ecowin). Im Frühjahr 2022 erscheint der dritte Band seiner Wissensökonomie-Sammlung Unterschiede. Wie Vielfalt mehr Gerechtigkeit schafft. Für Anfragen für Vorträge und Buchungen besuchen Sie www.wolflotter.de.