„Wir leben in einer Gesellschaft, in der immer weniger Führungskräfte bereit sind, selbst Verantwortung zu übernehmen.“
Herr Gigerenzer, in Ihrem Buch Risiko schreiben Sie, dass unseren Kindern in der Schule das selbständige Denken abgewöhnt wird. Eigene Lösungen seien nicht erwünscht. Die Folge sei, dass wir Angst vor Entscheidungen haben. Ist es wirklich so schlimm?
Gerd Gigerenzer: Nehmen wir das Beispiel des Mathematik-Unterrichts. Wie haben Sie und ich Mathematik gelernt? Da gab es eine Formel und dann ein Dutzend Aufgaben, bei denen man die richtigen Zahlen finden und in die Formel einsetzen musste. Diese Art des Lernens fördert nicht die Fähigkeit, selbst Lösungen für neue Probleme zu finden. Sinnvoller wäre es, den Kindern Aufgaben zu stellen für die sie die richtige Lösung noch nicht kennen, und diese entwickeln zu lassen. Dabei macht man Fehler, und diese sind wichtig, um daraus zu lernen und kreativ zu werden. Fehler zu machen ist also erwünscht, genauso wie daraus zu lernen. Damit können Kinder die Lösung auch verstehen, da sie diese ja selbst gefunden haben – statt sie auswendig zu lernen.
Das ist jetzt aber viel von unseren Schulsystemen verlangt.
Es gibt Lehrer und Schulsysteme, die bereits verstehen, dass Kinder aus Fehlern lernen können, wenn sie diese auch machen dürfen. Noch allgemeiner, schon in der Schule sollten Kinder und Jugendliche vermittelt bekommen, mit Risiko und Ungewissheit umzugehen. Die Corona-Krise gibt uns eine einmalige Gelegenheit, Schülern anhand eines Themas, das jetzt alle betrifft, statistisches Denken beizubringen. Die Corona-Pandemie hat eine Besonderheit: Es sind nicht Bilder, sondern Zahlen, die uns Angst machen – und auch Hoffnung. Was bedeuten alle diese Statistiken wie der R-Wert, die Neuinfektionen pro 100’000 Menschen und der Anteil der positiven Tests an allen Tests? Wie schätzt man diese Werte ein und wie hängen sie zusammen? Welche Eigenschaften muss ein wirksamer Impfstoff haben und wie kann man das feststellen? Das wäre Mathematik mitten im Leben – diese Chance sollten wir ergreifen und nicht verstreichen lassen.
Wir lernen eben alle sehr früh, dass Fehler und Risiko nicht gut sind. Woher kommt das schlechte Image?
Manche Menschen brauchen die Illusion der Gewissheit. Die Vorstellung, dass die Welt alle Lösungen schon hat und man sie nur im Internet finden muss. Man hat Angst vor Fehlern und sucht nach Sicherheiten die es nicht gibt. Und das gilt nicht nur für Kinder.
In vielen börsennotierten Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen herrscht eine negative Fehlerkultur. Fehler dürfen nicht passieren; wird einer gemacht, versucht man ihn unter den Teppich zu kehren. Gelingt das nicht, sucht man nach einem Schuldigen. Das führt dazu, dass jeder sich selbst schützt und die Entscheidungen zu langsam oder gar nicht getroffen werden.
Gerd Gigerenzer
Fehler werden versteckt, wodurch man nicht aus ihnen lernen kann und sie dann immer wieder passieren. Wir brauchen Schulen, Unternehmen und Verwaltungen mit einer positiven Fehlerkultur! Hier geht man davon aus, dass Fehler passieren können, und nimmt diese dann als wertvolle Information, um die Ursachen zu finden und zu beseitigen – nicht um jemanden zu beschuldigen. Eine positive Fehlerkultur fördert den Mut zu Risiken und Innovation.
Stichwort: Evolution?
Richtig. Ohne Kopierfehler in den Genen gibt es keine Evolution. Für Darwin war Variation und Selektion der Motor, der den Menschen hervorgebracht hat. Wenn wir alle gleich wären, ginge es nicht weiter.
Sie ermuntern die Menschen, an ihrer Risikokompetenz zu arbeiten und sich eine „Risikointelligenz“ zu erarbeiten. Wie geht das?
Die Fähigkeit mit Risiken und Ungewissheit vernünftig umzugehen, ist heute so wichtig wie es die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben vor Jahrhunderten war. Ich nenne es Risikokompetenz. Dazu gehört statistisches Denken, aber auch die psychologische Seite – also warum wir uns vor einer Gefahr mehr fürchten als von einer anderen, oder wie man Statistiken so aufbereiten kann, dass sie für jeden verständlich sind. Wir entwickeln Techniken, die Menschen helfen, besser durchzublicken. Wir haben Tausende von Ärzten in Deutschland trainiert, damit sie die Pros und Contras von Behandlungen und die Ergebnisse von Tests besser verstehen. Statistisches Denken wird in der medizinischen Ausbildung und Fortbildung immer noch nicht verständlich und nachhaltig gelehrt. Ich habe auch in den USA amerikanische Bundesrichter trainiert, da das Jurastudium alles lehrt – nur statistisches Denken nicht. Also etwa einzuschätzen zu können, was das Ergebnis eines DNA-Tests bedeutet. Zahlenblindheit im Gericht hat unschuldige Menschen hinter Gitter gebracht! Das muss nicht sein. Alle sollten eine Chance haben, ihre Risikokompetenz zu trainieren.
Ich lebe in Berlin und hier wird es mit Risikokompetenz wohl noch so lange dauern wie es mit dem BER gedauert hat.
Gerd Gigerenzer
Wie kann das in der Praxis aussehen?
Es sollte in den Schulen beginnen. Beispielsweise wurde das statistische Denken, das man braucht um das Ergebnis eines positiven DNA-Tests oder HIV-Tests zu verstehen – „die Regel von Bayes“ – bisher meist so gelehrt, dass die meisten Schüler es nicht verstanden haben. Nachdem wir eine intuitive Technik entwickelt haben, mit der es die meisten Schüler sofort verstehen, wurde diese in den 11. Klassen in Bayern in den letzten Jahren eingeführt. Das Problem lag also nie bei den Schülern, sondern in der kaum verständlichen Darstellung der Zahlen der Lehrmittel. Doch die Schüler wussten das nicht, und dachten wohl, dass sie das Problem sind. Dies ist ein Beispiel, wie man effektiv Risikokompetenz fördern kann. Hier ist Bayern vorne. Ich lebe in Berlin und hier wird es mit Risikokompetenz wohl noch so lange dauern wie es mit dem BER gedauert hat.
Und in welchen Bereichen ist Risikointelligenz besonders wichtig?
Gesundheit, Finanzen, Internet – so gut wie überall.
Geben Sie uns ein Beispiel, wo eine kollektive Risikointelligenz Schlimmeres verhindert hätte.
Kennen Sie die Antibabypillenpanik? In Großbritannien hatten Medien und die britische Arzneimittel-Sicherheitskommission davor gewarnt, dass Frauen, die die Pille der 3. Generation nehmen, ein um hundert Prozent erhöhtes Risiko einer Thrombose haben. Viele schockierte Frauen haben mit Angst reagiert und die Pille abgesetzt, was dann zu unerwünschten Schwangerschaften und Abtreibungen führte. Aber wie viel ist hundert Prozent? Die Studie, auf der die Warnung beruhte, hatte gezeigt, dass bei je 7’000 Frauen, die die Pille der 2. Generation nahmen, eine einzige Frau eine Thrombose erlitt. Bei 7’000 Frauen, die mit der Pille der 3. Generation verhütet haben, waren es zwei. Das sind hundert Prozent mehr, ja. Aber absolut ist das ein Anstieg von eins auf zwei bei je 7’000 Frauen, das entspricht weniger als einem Promille. Diese eine falsche Warnung führte nun dazu, dass es im folgenden Jahr geschätzt 13’000 mehr Abtreibungen gab als normal. Hätten die Frauen und ihre Partner den Unterschied zwischen einem relativen Risikoanstieg, hier 100 Prozent, und einem absoluten Risikoanstieg, 1 bei 7’000, gekannt, wären die Abtreibungen nicht passiert.
Ganz unabhängig davon: Abtreibungen dieser Art sind ja alles andere als gesünder für die Frauen.
Das stimmt. Die Ironie ist, dass die Chance, eine Thrombose zu bekommen, bei einer Abtreibung höher ist als bei der Pille der 3. Generation. Unverständnis kann zu Panik führen.
Haben Sie auch ein aktuelles Beispiel zur Hand?
Aus Angst vor Corona gehen einige Menschen wesentlich größere Gefahren ein als notwendig. Die Krankenhäuser haben berichtet, dass die Anzahl der Patienten, die mit Symptomen eines Schlaganfalls oder Herzinfarkts in die Notaufnahme kommen, um ein Viertel bis ein Drittel zurückgegangen ist. Viele Menschen gehen anscheinend trotz akuter Symptome nicht ins Krankenhaus, weil sie Angst haben, sich dort mit Corona anstecken zu können. Diese Angst kann tödlich enden.
Sie vertreten auch die Meinung, dass wir Menschen zu übertriebener Expertengläubigkeit neigen. Ist das im Falle von Corona nicht genau andersherum, wenn wir etwa die Proteste in Deutschland anschauen?
Wir brauchen Experten. Nur gibt es zwei Arten davon. Es gibt solche, die ihr Handwerk verstehen und Brücken bauen, Suchmaschinen programmieren oder Sonden zum Merkur senden. Es gibt aber auch Experten, die von einer anderen Natur sind. Astrologie-Experten, Gurus oder Banker, die Aktienverläufe und Wechselkurse vorhersagen. Es gibt eine milliardenschwere Vorhersageindustrie weltweit, die Vorhersagen liefert, welche meist absolut wertlos sind.
Sie meinen Experten, die für sich selbst kein Risiko eingehen?
(lacht) Nehmen wir einmal den Wechselkurs von Euro und Dollar. Ich habe die Vorhersagen der zwanzig größten Banken und Finanzinstitute der Welt, wie Morgan Stanley, Deutsche Bank und UBS, über zehn Jahre untersucht. Diese liegen regelmäßig so daneben, und so vorhersagbar daneben, dass, wenn ich die Analyse in Vorträgen bei eben diesen Banken zeige, es zu Kopfschütteln und Heiterkeit führt. Dennoch machen die Banken weiter mit ihren Vorhersagen.
Warum?
Weil es die Nachfrage gibt. Warum bezahlt ein Unternehmen eine Bank dafür, dass sie wertlose Vorhersagen über Wechselkurse macht? Hier kommen wir zur Psychologie des Entscheidens. Wenn Sie eine Führungskraft sind, die Entscheidungen über transatlantischen Handel trifft und Sie selbst den erwarteten Wechselkurs einpreisen und es geht schief, dann liegt die Verantwortung bei Ihnen. Wenn Sie aber eine Bank beauftragen, ist es nicht mehr Ihre Verantwortung. Wir leben in einer Gesellschaft, in der immer weniger Führungskräfte bereit sind, selbst Verantwortung zu übernehmen.
Würden Sie sich selbst eigentlich als Experten bezeichnen?
Ich habe mein berufliches Leben damit verbracht, als Wissenschaftler menschliche Entscheidungen zu erforschen. Hier bin ich Experte. Aber ich bin kein Experte in allen Bereichen. Nur habe ich über Jahrzehnte mit Kollegen aus anderen Disziplinen zusammengearbeitet, um mehr zu verstehen, und auch mit Ärzten, Richtern und Managern. Das hilft mir, etwa zu verstehen, warum Gurus weiterhin gebraucht werden, aber auch warum wirkliche Experten Ihnen oft nicht den besten Rat geben können.
Dazu noch ein abschließendes Beispiel, bitte.
Wissen Sie, was „defensive Medizin“ ist? Ein Arzt empfiehlt Ihnen eine Behandlung, die er seinen eigenen Familienangehörigen in der gleichen Situation nicht empfehlen würde. Typischerweise unnötige Antibiotika, Computertomographien oder Operationen. Er schützt sich damit vor Ihnen als mögliche Klägerin. Denn Patienten klagen meist, wenn sie meinen, dass etwas unterlassen wurde, aber selten, wenn sie übertherapiert wurden und dadurch Schaden erlitten haben. Wie häufig passiert das? Studien in den USA berichten, dass über 90 Prozent der Ärzte zugeben, dass sie defensive Medizin praktizieren. Ich habe mit diesen Ärzten gesprochen, und sie sagen offen, dass sie nicht anders können, sonst würden sie in zu viele Gerichtsprozesse verwickelt. In Deutschland ist der Anteil vielleicht nur halb so groß, da wir ein anderes Rechtssystem haben. Aber hier wie auch in den USA sind sich die meisten Menschen nicht im Klaren, wie häufig defensive Medizin praktiziert wird. Und es ist nicht einfach die Schuld der Ärzte – es sind schließlich die Patienten, die klagen. Man lebt gesünder, wenn man die Situation des Arztes besser versteht. Auch das ist Risikokompetenz.
Über den Autor
Prof. Gerd Gigerenzer ist Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Zudem leitet der habilitierte Psychologe das 2009 gegründete Berliner Harding-Zentrum für Risikokompetenz. Darüber hinaus bietet Gigerenzer Trainings in der Kunst des Entscheidens und der Risikokommunikation etwa für Ärzte und Richter an. Von ihm erschienen: Risiko – Wie man die richtigen Entscheidungen trifft und Bauchentscheidungen – Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition.
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