„Maschinen nehmen uns schon seit Jahrhunderten die Jobs weg.“

Macht die digitale Transformation menschliche Arbeit langfristig überflüssig? Wie mächtig dürfen Algorithmen und Roboter überhaupt sein? Der Ökonom Marco Salvi vom Think Tank Avenir Suisse gibt Auskunft.

„Maschinen nehmen uns schon seit Jahrhunderten die Jobs weg.“

getAbstract: Herr Salvi, beginnen wir ganz grundsätzlich. Warum haben so viele Menschen Angst vor der Digitalisierung?

Marco Salvi: Insgesamt ist die Schweiz nicht negativ eingestellt gegenüber der Digitalisierung. Es kommt bei einem so abstrakten Thema denn auch vor allem auf die Fragestellung an. Fragt man zum Beispiel, ob die Digitalisierung zu einer besseren Welt führen wird, bejaht eine Mehrheit der Befragten diese Aussage. Im internationalen Vergleich gehören die Schweizerinnen und Schweizer also eher zu den Optimisten. Anders sieht es interessanterweise aus, wenn man die Frage auf die eigene Situation bezieht: Wie wirkt sich die Digitalisierung auf Ihre besondere Situation aus?

Dann dominieren plötzlich die Ängste?

Genau. Und es ist doch normal, dass man sich Sorgen um die eigene Arbeit macht, das Phänomen ist also alles andere als neu.

Heute ist die Quelle der Unsicherheit die Digitalisierung, vor 30 oder 40 Jahren war es die Angst, dass man nicht die richtige Ausbildung hat oder nicht fit genug ist.

Diese Ängste sind heute vielleicht nicht mehr so präsent, weil sich in unserer Arbeitswelt viel verändert hat. Die Leute leben zum Beispiel im Schnitt heute gesünder, sind besser gebildet, was alte Sorgen obsolet machte. Nun kommt halt die Digitalisierung, und die stellt vor neue Herausforderungen. Sie bietet aber auch viele Vorteile und Chancen. Nicht nur im Hinblick auf die Arbeit, sondern auch auf unsere Privatleben oder unseren Konsum. Gerade bei letzterem zeitigt die Digitalisierung heute schon enorme Vorteile, die auch positiv wahrgenommen werden.

Versteht man als Arbeitnehmer den Begriff „Digitalisierung“ vielleicht falsch?

Ich glaube, die Digitalisierung wird dramatisiert. Maschinen nehmen uns schon seit Jahrhunderten die Jobs weg. Dafür sind sie gemacht. Es handelt sich um einen fundamentalen Prozess: Maschinen befreien uns von gewisser Arbeit, oft von körperlich enorm anstrengender oder ungesunder, und ermöglichen uns so eine spezialisierte und besser bezahlte Arbeit.

Der Einsatz von Maschinen löst zwei Prozesse aus: Erstens die Automatisierung, ein arbeitssparender Prozess, und zweitens die Innovation, ein arbeitsfördernder Prozess. In der Schweiz hat die Innovation mehr Stellen geschaffen als die Automatisierung abgebaut hat.

Das ist heute so und wird auch in absehbarer Zeit der Fall sein; so lautet meine Prognose.

Gibt es aktuelle Zahlen dazu?

Ja. In der Schweiz verschwinden pro Jahr circa 10% der Arbeitsstellen, und es werden ungefähr 11% neue geschaffen. Wir kommen also auf einen positiven Saldo von ungefähr 50,000 Arbeitsplätzen. Die Frage, die sich dann stellt, ist: Wie leicht ist es heute und in Zukunft, von einem Job in den nächsten zu wechseln? Und wie schnell muss dieser Wechsel stattfinden?

Das große Thema ist also die Weiterbildung. Travail.Suisse fordert die Verankerung von Weiterbildung nicht nur in der Bundesverfassung, sondern auch in jedem Mitarbeitergespräch. So sollen Wirtschaft und Politik aktiviert werden. Aber: Ist die Weiterbildung überhaupt ein politisches Thema?

Weiterbildung ist essenziell, aber der größte Teil erfolgt „on the Job“. Die Tatsache, dass man arbeitet und dabei noch etwas lernt, ist der wesentliche Punkt. Unternehmen führen neue Technologien ein und Mitarbeiter lernen damit umzugehen – innerhalb dieses Prozesses wird am meisten Weiterbildung geleistet. Was die formelle Weiterbildung anbelangt, gehört die Schweiz schon zu den Weltmeistern. Ich habe vor Kurzem eine Statistik gelesen: 80% der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verfolgen irgend eine Art der Weiterbildung. Und: Unternehmen fördern formelle Weiterbildung. Erstens haben sie selbst jede Menge Anreize, dass ihre Mitarbeiter im Hinblick auf Wissen und Fähigkeiten kompetitiv bleiben. Zweitens verlieren sie sie, wenn sie sich querstellen. Aus einem einfachen Grund:

Die Leute wissen, dass Weiterbildung wichtig ist. Und wo man sie ihnen verwehrt, bleiben sie schon im Eigeninteresse nicht lange.

Aber ist es nicht auch so, dass gerade unsere alterenden Gesellschaften vor besonderen Herausforderungen stehen? In der aktuellen PISA-Studie ging es zum Beispiel darum, sich in einer digitalen Umwelt mit vielen Informationsquellen – darunter auch unglaubwürdige – zurechtzufinden. Sind wir in der Lage, solche neuen Fähigkeiten an die jüngere Generation weiterzugeben?

Die Studie und ihre Fragen sind sehr gut gemacht, ich habe sie auch ausprobiert. Es ist aber sehr schwierig, solche Fähigkeiten über verschiedene Länder und Kulturen hinweg zu messen. Die Fähigkeit, Fake News und andere Informationen zu verarbeiten, hängt davon ab, wie hoch der Stand des Allgemeinwissens ist. In der Schweiz spezialisieren wir uns sehr früh. Das ist vielleicht meine einzige Kritik am dualen System und an der Lehre, die ich eigentlich sehr vernünftig finde: Wir müssen schauen, dass allgemeines Wissen nicht vernachlässigt wird.

Sie meinen: Unsere Kurrikula sind nicht gut justiert?

Mir scheint, sie sind manchmal etwas zu spezialisiert. Klar: Unternehmen suchen genau diese Spezialisierung. Das ist auch der Grund, weshalb sie Lehrstellen bieten: Unternehmen möchten so schnell wie möglich produktive Jugendliche einstellen, und sind auch bereit, dafür zu zahlen. Das Risiko dabei ist, dass gewisse Fähigkeiten zu wenig gepflegt werden. Es ist dann umso schwieriger, ein gewisses Niveau zu erreichen, wenn Wissen und die Fähigkeiten seiner Erschließung nicht in der Schule gepflegt werden. Das sind aber alles Probleme, die wir gemeinsam lösen können. Und vergessen wir nicht: Die Schweiz ist dahingehend immer noch besser aufgestellt als viele andere Länder.

Fehlt es uns an vielleicht einfach an Perspektive?

Ich habe Mühe mit der Diagnose, dass hier alles schlecht ist oder bald wird. Die Schweiz ist immer noch ein Zuwanderungsland, das zeigt doch schon eindrücklich, dass die Lebens- und Arbeitsbedingungen hier attraktiv sind. Wir müssen auch nichts überstürzen: Die Digitalisierung gibt es seit mindestens 30 Jahren, sie hat schon zum Verlust von vielen Arbeitsplätzen geführt.

Wo sind zum Beispiel die vielen Sekretärinnen, die für ihre Chefs bloß Dokumente abgetippt haben? Heute tippt jeder seine Dokumente selbst. So gingen zwar Arbeitsplätze verloren, aber viel mehr wurden durch diesen Wandel geschaffen.

Führt man sich das regelmäßig vor Augen, statt sich von irgendwelchen Trends, die angeblich neu, rasant und gefährlich sein sollen, blenden zu lassen, kann man zuversichtlich in die Zukunft schauen.


Dr. Marco Salvi ist Senior Fellow und Forschungsleiter Chancengesellschaft bei Avenir Suisse. Er setzt sich u.a. mit dem Arbeitsmarkt, der Steuer- und Fiskalpolitik, Gleichstellung und regionalpolitischen Themen der lateinischen Schweiz auseinander. Er studierte Volkswirtschaft und Ökonometrie an der Universität Zürich und promovierte an der EPFL. Marco Salvi ist außerdem Dozent für Ökonomie an der ETH Zürich.

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