Pauken für das „wahre Leben“?
„Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir.“ So sprach Seneca vor 2000 Jahren in seiner bitteren Abrechnung mit dem römischen Schulsystem. Und heute? Schul- und Weiterbildung wird als Tor zu einem glücklichen und erfüllten Leben gepriesen. Doch irgendwo scheint uns der Schlüssel dazu verloren gegangen zu sein. Das behauptet zumindest unsere 14-jährige Tochter.
Es begann vor knapp neun Jahren wie bei so vielen Erstklässlern mit roten Bäckchen, einem nervösen Kribbeln im Bauch und einer Riesenvorfreude auf das neue Abenteuer Schule. Dann folgten einige sonnige Momente, über die sich immer dunklere Wolken schoben: Die Entdeckungslust wich dem Büffelfrust, unsere Tochter war zunehmend ausgebrannt, unmotiviert und unglücklich. Anfang 2020 bat sie uns schließlich, das Gymnasium verlassen und zu Hause unterrichtet werden zu dürfen. In unserer Wahlheimat Italien wird „Homeschooling“ zwar nicht gern gesehen, aber immerhin geduldet – das Recht darauf ist in der Verfassung verankert.
Ich selbst war hin- und hergerissen. Für manche in unserem Familien- und Bekanntenkreis hatte die Idee etwas Wahnsinniges. Selbst wenn man vom Problem der Zertifizierung absehe, so das Credo, wie solle unsere Tochter zu Hause die Regeln des sozialen Miteinanders lernen? Wo, wenn nicht in der Schule, könne sie sich auf das „wahre Leben“ vorbereiten – will heißen: auf hinterhältige Kollegen (fiese Klassenkameraden), unfähige Chefs (inkompetente Lehrer) und ungeliebte Aufgaben (Lateinunterricht), die zu jedem Job dazugehörten wie das Amen in der Kirche? Am Ende entschieden wir uns trotz Bedenken für das Experiment Homeschooling. Die vielen kontroversen Diskussionen warfen allerdings Fragen auf: Was kann und muss Bildung heute leisten? Wie wird das „wahre Leben“ aussehen, für das unsere Kinder seitenweise Formeln und Fakten pauken? Und sollten wir in Zeiten der Digitalisierung, Automatisierung, Corona- und Klimakrise nicht vielleicht alle noch einmal mit kindlicher Neugier von vorne beginnen? Viele kluge Menschen haben sich darüber schon die Köpfe zerbrochen.
Ich habe den Spieß umgedreht und die Person befragt, die es am meisten betrifft: Unsere Tochter. Ihre offenen und inhaltlich unkorrigierten Antworten finden Sie hier:
Nur vier Wochen nach dem Gespräch haben uns die Ereignisse überrollt: Als erstes europäisches Land schloss Italien Anfang März im Zuge der Covid-19-Notverordnungen die Schulen. Auch unsere Jüngste (11) sah sich nun mit hastig improvisiertem Video-Unterricht und Bergen an Hausaufgaben auf Lernplattformen konfrontiert – sie ist immer begeistert zur Schule gegangen und konnte die Kritik ihrer älteren Schwester nie teilen. Millionen Schüler, Eltern und Pädagogen auf der ganzen Welt mussten plötzlich umsetzen, was sie zuvor bestenfalls absonderlich und schlimmstenfalls asozial gefunden hatten. Und während es bei uns frühestens nach den Sommerferien im September wieder losgehen wird, öffnen in vielen Ländern die Schulen langsam wieder. Über die Frage, wer wann, wie und warum nun wieder die Schulbank drücken darf – nicht muss! –, wird lebhaft gestritten.
Nur beim „Was“ herrscht selten diffuse Einigkeit: Etwas muss sich ändern. Wir können junge Menschen nicht länger mit pädagogischen Methoden aus dem 20. Jahrhundert und einem Schulsystem aus dem 19. Jahrhundert auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorbereiten. Und ebenso wenig dürfen wir uns als Erwachsene auf den Lorbeeren vergilbter Abschlusszeugnisse ausruhen. In den kommenden Monaten werde ich an dieser Stelle die Kritik und Anregungen unserer Tochter aufnehmen, weiterspinnen, Wissenschaftler dazu interviewen und versuchen, neue Antworten auf alte Fragen zu finden. Jeder Themenkomplex des entstandenen Gesprächs wird also von Kommentaren, Experteninterviews und Leselisten flankiert, die Aufschluss darüber geben sollen, inwieweit die Perspektive unseres schulmüden Kindes und die Perspektive der Wissenschaft in dieser Frage übereinstimmen. Das Gespräch dient als roter Faden durch ein komplexes Thema, Monat für Monat werde ich ihm neue Beiträge hinzustellen, die das Gesamtbild vervollständigen sollen. Auf diesem Wege lernen Leser, ich selbst als Autorin und Mutter und nicht zuletzt unsere Tochter – und zwar gemeinsam.
Seneca drehte man einst die Worte im Munde herum: Aus seinem systemkritischen Originalzitat – „Non vitae, sed scholae discimus“ – wurde der programmatische, weitaus bekanntere Kalenderspruch: „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.“ Stimmt. Aber jetzt gilt es, den Schlüssel zum lebenslangen Lernen wiederzufinden!