Abstandswarner
So gut wie jedes moderne Fahrzeug hat heute verschiedene Abstandswarner an Bord: Einer sorgt dafür, dass man bei schneller Fahrt den Vorfahrenden nicht zu sehr auf die Pelle rückt, gleichzeitig erkennt das System auch gefährliche Hindernisse oder andere Verkehrsteilnehmende, die im Weg stehen. Dann greift der Bremsassistent ein und rettet dem Wagen das Blech – und uns den Hintern.
Trivialer, aber noch öfter nützlich ist der Abstandswarner beim Parken. Vorne, seitlich, hinten, alles ist mittlerweile möglich, nur damit die Stoßstangen – teuer lackiert und noch teurer zu reparieren – nicht zerkratzt werden. Kurz und gut: Beim Auto achten wir auf den Abstand, uns selbst zuliebe.
Abstand schätzen Leute auch in direkter Nachbarschaft. Deswegen bauen sie sich einen Sichtschutz auf Balkon, Terrasse und vors Häuschen, einen schönen Zaun, eine hübsche Hecke vielleicht. Die Türen macht auch fast jeder Zeitgenosse zeitig zu, und gelegentlich ziehen wir sogar die Vorhänge vors Fenster. Nähe ist gut, wenn man mal wieder vergessen hat, Eier einzukaufen. Aber für sechs Eier die Hecke opfern? Selbst in den besten Nachbarschaften undenkbar!
Das Private ist öffentlich
Worauf will ich hinaus? Ganz einfach: Wer in den sozialen Netzwerken zu tun hat, dürfte all das eigentlich nicht verstehen. Denn hier herrscht schon das Prinzip, das auch in immer mehr Institutionen, in der Öffentlichkeit und im Job eingezogen ist: Distanzlosigkeit. Kein Abstand. Was auf den ersten Blick nach einem „Abbau von Hierarchien“, nach „mehr Partizipation“ aussieht, ist in Wahrheit vor allem eins: übergriffig.
Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst
Hoffmann und CampeIn seiner einfachsten Form begegnen wir der neuen Distanzlosigkeit dort, wo sich heute alle duzen, vom Chef bis zum Pförtner, weil das angeblich das Betriebsklima verbessert. Tatsächlich machen die meisten Leute hier mit, weil Claudia oder Martin das wollen. Genauer: Weil die beiden zwar „Claudia“ und „Martin“ genannt werden wollen, aber am Schluss doch vor allem eins sind: Claudia und Martin aus der Chefetage. Auf anderer Ebene begegnen wir dem Geduze als Kunden. Agenturpraktikanten (m/w/d), die dort der Kosten wegen als Social-Media-„Experten“ gehalten werden, bieten Menschen, die sich eine Dienstleistung für mehrere Tausend Euro oder Franken einkaufen wollen, das Du nicht einmal mehr an, sondern nehmen es sich einfach. Begründung: „Die meisten unserer Kunden (m/w/d) wollen das so.“
Ach ja? Ich, sage ich dann immer freundlich, will das aber nicht so. Denn: Mein Abstandswarner hat gepiepst. Und wenn der piepst, trete ich auf die Bremse. Denn Distanz ist mir wichtiger als die behauptete „Wahrheit“ aus dem Datensalat des Praktikanten, und sie ist mir auch wichtiger als jedwede daraus abgeleitete Sippenhaft. Denn:
Abstände gibt es, damit wir verstehen, wo eins anfängt und das andere aufhört, das Private, das Politische, meins, deins, unseres, eures.
Abstände sind wichtig, weil Unterschiede wichtig sind. Das gilt zuvorderst für die Person: Das Gegenteil von Abstandswahrung ist nämlich Nivellierung, die übergriffig, belehrend, autoritär, gleichschaltend ist und schnell ins Totalitäre kippt.
Warum sachlich, wenn es auch persönlich geht
Brand einsWeniger Distanz?
Kommt drauf an. Duzen im Team hat oft gute Gründe, und natürlich ist auch der Fokus auf die eigene Zielgruppe im Verkauf nichts Schlechtes. Gleichwohl sollte man die ungeschriebenen und geschriebenen sozialen Regeln im Umgang mit dem Gegenüber beachten, immer und überall:
- Nummer eins: Fass mich nicht an, wenn ich nicht will.
- Nummer zwei: Zwinge niemanden, deine Kultur anzunehmen.
- Nummer drei: Benimm dich so, wie du behauptest, dass du bist: tolerant zu denjenigen, die deine Ansprache nicht wollen.
In seiner zeitlosen Stachelschwein-Parabel hat der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer die Sache treffend erklärt:
Im Winter, wenn es kalt ist, rücken die Stachelschweine zusammen, um sich zu wärmen. Sind sie zu weit voneinander weg, dann wird es kalt, sie zittern und frieren. Aber kommen sie sich zu nahe, dann piksen sie einander.
Soziales hat nichts mit Coolness zu tun, sondern mit Respekt und Anerkennung, jenem vierten Maslowschen Bedürfnis, das er „persönlich“ nennt. Deshalb entscheidet die Person, nicht das Kollektiv, nicht die Kultur, nicht das Management, wo Übergriffigkeit anfängt. Ein Nein ist auch hier ein Nein. Und dabei müssen wir bleiben, wenn uns Gemeinschaft etwas bedeutet.
Nächstes Mal: Lebensbildung – Mehr Bildung löst keine Probleme, wenn der Stoff, aus dem sie besteht, sich immer nur wiederholt.
Wissenswertes über den Autor
Wolf Lotter ist Buchautor, Mitgründer von brand eins und Transformationsexperte – ein Thema, das auch seine Bücher prägt, zuletzt: Zivilkapitalismus (2013, Random House), Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen (2020, Edition Körber) und Strengt euch an. Warum sich Leistung wieder lohnen muss (2021, Ecowin). Im Frühjahr 2022 erschien der dritte Band seiner Wissensökonomie-Sammlung Unterschiede – Wie aus Vielfalt Gerechtigkeit wird. Seinen Podcast Trafostation können Sie hier anhören. Für Anfragen für Vorträge und Buchungen besuchen Sie www.wolflotter.de.