Zieht, für die Freiheit!
Wir sind nicht die Ersten, die durch Schaden klug werden könnten. Als die Pest, der „Schwarze Tod“ im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts ihr Wüten einstellte, hatte sie 25 Millionen Menschen, ein Drittel der europäischen Gesamtbevölkerung, getötet – und eine Epoche, die wir heute Mittelalter nennen.
Die Pest war der letzte, große Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Schon in den Jahrzehnten zuvor hatten sich Technik und städtisch bürgerliches Selbstbewusstsein weit entwickelt. Man nahm sein Schicksal einfach nicht mehr so hin. Das hatte zu neuem Wohlstand geführt, zu neuem Denken. Die Pest sortierte die Menschen nun in Transformationsfähige und jene, die sich vor Neuem immer fürchteten. Letztere verloren sich in Verschwörungstheorien, Untergangsfantasien und Selbsthass. Der fortschrittlichere Teil hingegen hörte mit dem Alten auf – und machte sich auf in die Moderne.
Und wir? Zu welcher Fraktion gehören wir? Zu den Selbstgeißlern oder zu den Modernen? Die Pandemie traf uns auch in einer Transformation, die schon seit Jahrzehnten läuft. Sie verändert die alte Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft. In der geht es darum, dass selbstbewusste und selbstbestimmte Menschen ihr Leben in die Hand nehmen. Sie sind ihr eigener Chef.
Spätestens jetzt wird es also ernst fürs Ancien Regime der alten Hierarchien. Seine Phrasen von ‚Augenhöhe‘ fruchten nicht mehr. Seine Inszenierungen vermeintlich ‚flacher Hierarchien‘ nehmen ihm ausgerechnet die nicht mehr ab, die es am meisten braucht: Die Klugen und gut Ausgebildeten, die Innovationsfähigen und -willigen. Der Colt raucht.
High Noon im Angestelltenland
Die Frage steht im Raum: Wer macht hier eigentlich die Arbeit? Womit? Wie? Mit wem? Und wo? Es geht dabei nicht ums Homeoffice, es geht um Selbstbestimmung. Und viel, viel Arbeit. Umbau, Neubau, Aufbau der Wissensgesellschaft. Wir brauchen Wohnungen, Häuser, Arbeitsräume, die zum neuen Leben passen:
- Überteuerte Städte, die fürs Auto gebaut sind, sind miese Biotope für Kopfarbeit (siehe Kolumne Ruhe!).
- Das Büro, die Organisation, wie wir sie kennen, gehört zur Industriegesellschaft. Es ist die Fortsetzung der Fabrik mit anderen Mitteln – Schreibtischen statt Fließbändern. Selbstbestimmt ist dort gar nichts.
- Meetings gaukeln Teilhabe vor, dienen aber meist nur der Kontrolle.
- Sogar der Begriff der Präsenzpflicht für Angestellte ging wieder rum. Das Wort wird auch beim Militär verwendet, für die Verpflichtung zum Wehrdienst.
Die Pandemie ist Katastrophe und Kopfnuss für die alte Welt zugleich. Wir brauchen neue, wissensarbeitsgerechte Städte, echte Digitalisierung, funktionierende Netzwerke. Wer Banken, Autokonzerne, Fluggesellschaften zuerst rettet, so wie das nahezu alle europäischen Staaten in der Pandemie taten, zeigt, dass er nur für die Welt von gestern arbeitet.
Kreative, Wissensarbeiter, zieht euren Colt! Die Bösen wollen eure Zukunft über den Haufen schießen, damit alles so bleibt, wie es ist!
Es gibt kein „Zurück zur Normalität“, denn diese Normalität ist eigentlich Wahnsinn. Das wissen viele – und jetzt wissen es täglich mehr. Der Kölner Karrierecoach und Spiegel-Kolumnist Bernd Slaghuis schrieb erst kürzlich auf Twitter: „Wenn ich die Anzahl der Coachinganfragen derer, die aktuell mit einem Jobwechsel liebäugeln, hochrechne, dann werden viele Arbeitgeber auch hier im Land spätestens im Sommer ein echtes Problem bekommen.“
Das ist gut so. Denn die Unzufriedenen hassen nicht ihre Arbeit, sondern ihre Arbeitsbedingungen. Entfremdung, das ist heute nicht was man tut, sondern wie. Frithjof Bergmann, der im Vorjahr verstorbene Vater der New-Work-Idee, forderte Veränderungswillige schon vor Jahrzehnten zu einer einfachen Übung auf: Denk nach, was du wirklich, wirklich willst.
New Work: Auf dem Weg zur neuen Arbeitswelt
Springer Gabler Zusammenfassung ansehenDiese Frage stellen sich endlich nicht mehr nur Einzelne, möglicherweise Privilegierte, sondern eine (schweigende) Mehrheit: Massenweise ziehen Menschen Konsequenzen – und entziehen der alten Welt ihr Vertrauen. Gut so. Denn ohne Brüche geht nichts Neues. Zieht, bevor es die anderen tun. Die Colts rauchen.
Das Duell läuft zwischen Untertan und Citoyen, zwischen Untergebenen und Chefs, den Vor-Gesetzten, zwischen Mit-Arbeiter und Selbst-Bestimmer. Wer kündigt, meint damit nicht nur seinen Job, sondern auch ein überholtes Lebens- und Arbeitsmodell.
Die Gewinner sind die, die das wissen. Die Pandemie ist eine Krise. Das Wort bedeutet so viel wie Wendepunkt, aber auch Entscheidung. Sie macht die Realität kenntlich. Sie zeigt, was nicht mehr geht und was möglich wäre. Sie ist eine Chance. Und damit fängt die Zukunft an.
Wissenswertes über den Autor
Wolf Lotter ist Buchautor, Mitgründer von brand eins und Transformationsexperte – ein Thema, das auch seine Bücher prägt, zuletzt: Zivilkapitalismus (2013, Random House), Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen (2020, Edition Körber) und Strengt euch an. Warum sich Leistung wieder lohnen muss (2021, Ecowin). Im Frühjahr 2022 erscheint der dritte Band seiner Wissensökonomie-Sammlung Unterschiede. Wie Vielfalt mehr Gerechtigkeit schafft. Für Anfragen für Vorträge und Buchungen besuchen Sie www.wolflotter.de.
Nächstes Mal: Freiraum statt Spielzimmer! Mehr Designbüros für Angestellte, um ihnen die Rückkehr ins Büro schmackhaft zu machen? Managern, denen nicht mehr einfällt, sind im „War for Talents“ schon gefallen.