K(r)ampf der Kulturen
Stellen Sie sich vor, ein guter Freund nimmt Sie in seinem Auto mit. Er ist ein bisschen zu schnell unterwegs und fährt dabei einen Fußgänger an. Nichts Dramatisches, aber trotzdem kommt es im Laufe der Ermittlungen zu einem Gerichtsverfahren, in dem Sie als einziger Zeuge aussagen müssen. Kurz vor der Verhandlung bittet Ihr Freund Sie, bezüglich der Geschwindigkeitsübertretung zu lügen. Was tun Sie?
Das ist eine ziemlich unangenehme Situation, oder? Sie stecken in einem Dilemma. Und dieses Dilemma kann jeder Mensch nachempfinden. In jeder Kultur. Aber: Würden Sie für einen Freund lügen? Untersuchungen zeigen, dass die Beantwortung dieser Frage eng damit verbunden ist, aus welchem Kulturkreis Sie kommen.
Der Kommunikationsexperte Fons Trompenaars fand heraus, dass die meisten Amerikaner in dem oben genannten Beispiel antworten: Das Gesetz steht über der Freundschaft. Ich werde nicht lügen. Inder dagegen sagen: In unserer Kultur ist Freundschaft ein höheres Gut als das Gesetz: Natürlich werde ich lügen. Ein Italiener wiederum sagt: Was genau ist eine Lüge? Und der Deutsche fragt: Lüge hin oder her – was ist eigentlich mit dem Auto …?
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Jeder, der intensiv in der Weltgeschichte herumreist, weiß wie unterschiedlich Menschen aus anderen Kulturkreisen identische Sachverhalte einschätzen, bewerten und darauf reagieren. Zum Beispiel halten viele Deutsche die Amerikaner für verrückt, weil sie gerne mit einem Revolver im Anschlag herumlaufen. Aber genau das Gleiche denken die über uns, wenn sie hören, dass wir mit zweihundertachtzig Sachen über die Autobahn ballern.
In amerikanischen Restaurants ist gechlortes Eiswasser ein kostenfreier Service, in Deutschland ist es eine Körperverletzung.
Vince Ebert
Meine Frau Valerie ist als Österreicherin vollkommen anders geprägt als ich. Oft amüsiert sie sich darüber, dass es mir als Deutscher so wichtig ist, was andere Kulturen von uns halten. Sobald wir Gast in einem fremden Land sind, neigen wir Deutschen sogar dazu, uns anzubiedern. Wenn zu Hause die Deutsche Bahn zehn Minuten Verspätung hat, drehen wir durch, aber wir rollen verzückt mit den Augen, wenn in Kalkutta drei Tage der Bus nicht kommt. „Diese Inder sind ja so unglaublich locker. Da hat Zeit noch einen anderen Stellenwert.“
Mit dieser Einstellung kann Valerie überhaupt nichts anfangen. Die sagt sich: „Wir Habsburger waren mal ein Weltreich, da hat sich eh alles nach uns gerichtet …“ Und demensprechend selbstsicher benimmt sie sich in fremden Ländern. Ich dagegen habe im Ausland immer Angst, etwas falsch zu machen. Deswegen bezeichne ich mich auch ungern als „Tourist“, sondern lieber als „Traveller“. Denn als Traveller erkundet man die Welt, man verschmilzt sozusagen mit der jeweiligen Kultur. Als Tourist sitzt man einfach nur blöd im ClubMed und trinkt Asbach-Cola. Uns Deutschen ist das viel zu profan. Wir möchten in die Sitten und Bräuche eines anderen Landes eintauchen. Deswegen fliegen wir nach Neuguinea und rennen nach zwei Tagen ganz traditionell mit Grasrock und Penisköcher durch die Gegend. „Hach, da drüben ist alles so herrlich ursprünglich …“
Wir leben in einer globalisierten Welt. Nahezu überall essen wir die gleichen Hamburger und benutzen die gleichen Smartphones. Doch das sagt uns nicht, was es in der jeweiligen Kultur bedeutet, bei McDonald’s zu essen oder ein iPhone X zu besitzen. Viele Aspekte unseres Lebens – von der Art, wie wir Freundschaften knüpfen, einen Flug buchen oder mit einem Menschen flirten – sind abhängig von unserer kulturellen Prägung. Grundlegende Emotionen wie Freude, Trauer, Ärger oder Eifersucht haben zwar alle Menschen gemeinsam, die kulturellen Unterschiede liegen aber darin, wie sie diese Emotionen verarbeiten, ausdrücken oder bewerten.
Einmal habe ich vor einem Restaurant in Manhattan zwei Marokkaner gesehen, die so aggressiv aufeinander einbrüllten, dass ich dazwischenging, um den Streit zu schlichten. Dabei stellte sich heraus, dass der eine seinem Landsmann nur den Weg zum Hilton erklärt hat.
Vince Ebert
Das, was die einen für verrückt halten, ist für andere normal: Ein Großteil der Franzosen sieht Kernenergie als nicht besonders gefährlich an. Käse zu essen ist für Asiaten absurd. Der deutsche Hype um die Homöopathie wird in Großbritannien belächelt. All diese Tatsachen halten uns aber nicht davon ab, unsere Einstellungen und Weltbilder als alternativlos und als allgemeingültig anzusehen – wir können uns oft nicht einmal vorstellen, dass schon ein paar Hundert Kilometer entfernt die Menschen vollkommen anders darüber denken. Aber genau so ist es!
Wenn zum Beispiel die englische Fußballnationalmannschaft verliert, dann ziehen die Engländer randalierend durch die Straßen und bringen die gegnerischen Fans um. Wenn Japan verliert, dann verbeugen sich die japanischen Fans höflich, machen das gesamte Stadion sauber und bringen sich dann selbst um. Sie sehen: Eine andere Kultur kann man – wenn überhaupt – nur begreifen, indem man die Perspektive wechselt. In der Physik macht man das ständig: Neue wissenschaftliche Erkenntnisse entstehen immer dann, wenn man den Bezugspunkt verändert. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit dem Phänomen der Kultur.
Durch meine Heirat mit Valerie wird mir das immer wieder vor Augen geführt. „Bella gerant alii, tu felix Austria nube“, lautete das Motto der Habsburger: „Andere mögen Kriege führen, du, glückliches Österreich, heirate.“ Hier hat man quasi das Schlachtfeld ins Schlafzimmer verlegt. Mit dieser friedlichen Strategie fahren die Österreicher auch heute noch, lange nach dem Ende der Monarchie, ziemlich gut. Selbst das traditionell angespannte deutsch-österreichische Verhältnis hat sich in den letzten Jahrzehnten extrem verbessert. Wobei man das alljährliche Einfallen der deutschen Skitouristen am Arlberg durchaus als einen kriegerischen Akt ansehen kann …
Vince Ebert ist Diplom-Physiker, Wissenschaftskabarettist und Bestsellerautor. Sein Anliegen ist die Vermittlung wissenschaftlicher Zusammenhänge mit den Gesetzen des Humors. Seit 2004 ist er erfolgreich auf deutschsprachigen Bühnen unterwegs, aktuell mit seinem neuen Programm „Make Science Great Again!“ (Tickets & mehr…). Seine Bücher verkauften sich über eine halbe Million Mal und standen monatelang auf den Bestellerlisten. In der ARD moderiert er regelmäßig die Sendung „Wissen vor acht – Werkstatt“.
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Foto: Frank Eidel