Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit
Eigentlich sollte das Buch ein Business-Roman werden. So zumindest schlug es mir Veronika Huckes Agent vor zwei Jahren vor. Es sollte um Vielfalt und Chancengleichheit gehen. Doch mit Business-Romanen ist das so eine Sache bei uns: Was in den USA auf eine große Fangemeinde trifft, kommt im deutschsprachigen Raum nicht besonders gut an. So haben wir es zumindest bei Campus erlebt. Und deshalb lehnen wir als Lektoren derartige Angebote in der Regel ab.
Es reicht, bei der Wahrheit zu bleiben
Während eines Mittagessens fragte ich dann allerdings unverblümt die Autorin, ob sie sich die Geschichten des Buches alle selbst ausgedacht habe. Die Antwort war ein fragender Blick und ein entschiedenes „Nein. Da ist gar nichts ausgedacht. Das alles ist tatsächlich so passiert.“ Das warf bei mir die nächste Frage auf: Warum dann die fiktionale Form? Niemand wurde davon ausgehen, dass es sich um tatsächlich Geschehenes handle, sondern um eine vom Cover bis zum Buchrücken erfundene Story. Das überzeugte die Autorin, denn was Veronika Hucke eigentlich am Herzen lag, war das „Fair führen“. Es folgte eine kurze Absprache, ein Sinneswandel und das Konzept wurde umgearbeitet auf „Führungsratgeber“ mit ganz klaren praktischen Handlungsanweisungen.
Von diesem Moment an war das Ding quasi ein Selbstläufer. Wir haben auf gehobene Zeigefinger und „Du, Du, Du‘s“ verzichtet. Wir wollten mit dem Buch ein Bewusstsein schaffen, wie sehr wir alle von unbewussten Vorurteilen und erlernten Stereotypen in unserem Handeln beeinflusst werden. Bündeln wir diese in Teams und Abteilungen, entwickelt sich leider eine ungute Gruppendynamik. Der Einzelne bleibt auf der Strecke. Wir verlieren uns – vor allem in Kleinigkeiten. Und am Ende sind dies es, die uns zum Stolpern bringen. Denn Mikro-Aggressionen und Mikro-Ungerechtigkeiten sind kleine Dinge mit großer Wirkung. Und am Ende tödlich fürs Arbeitsklima.
„Fair führen“ – der Titel ist gleichzeitig das Aushängeschild des Buches und ein Zeichen von Inklusion. Während er in Sekunden stand, hat unsere Diskussion über den Untertitel etwas länger gedauert. Am Ende waren wir uns aber einig: Untertitel? Brauchen wir nicht! Mit „Fair führen“ ist eigentlich alles gesagt. Für die aufschlussreichen Grafiken holte Veronika Hucke final noch ihre Schwester mit ins Boot, die sich für das visuelle Verständnis von Fairness in der Führung verantwortlich zeigt.
Fettnäpfchen warten an jeder Ecke
Am Ende ist in enger und sympathischer Zusammenarbeit ein Buch entstanden, dass über klassische Alltagssituationen berichtet. Über zahlreiche Stolperfallen, die jeder wiedererkennen kann. Wobei wir offenen Auges selbst in ein Fettnäpfchen gerannt sind: Da war diese Geschichte einer Frau, deren Tochter geheiratet hat. Und aus „Mutter Beimer“ – alias Super-Mama aus der Lindenstraße – wurde in wenigen Tagen „Dr. No“ aus James Bond. Heißt: Sozial nicht kompatibel und wider aller Normen. Wir fanden das lustig, denn Witze über (böse) Schwiegermütter haben in Deutschland Tradition. Doch in anderen Ländern und Kulturen ist das eben nicht so. Wenn man Glück hat, wird der Witz einfach nicht verstanden. Wenn man Pech hat, ist der Unmut beim Leser riesig. Daher haben wir die Schwiegermutter-Witz-Geschichte nach dem Feedback unserer Testleser kurzerhand aus dem Manuskript gestrichen.
Wir alle freuen uns, dass das Buch so gut bei den Lesern ankommt. Wir hoffen, dass es ein wenig mehr gesunden Menschenverstand und Menschlichkeit in die Businesswelt bringt. Verlag und Lektorin gratulieren Veronika Hucke deshalb besonders herzlich zur Verleihung des getAbstract International Book Awards 2020.