Folge 3: Authentisch wem zuliebe?
„Sei du selbst“ liest Nina auf einem Werbeplakat, jedes Mal wenn sie nach Hause fährt. Dann stellt sie sich vor, wie es wäre, wenn sie einfach immer nur sie selbst wäre – und sofort ist Nina der Gedanke unangenehm. Denn vor allem im Hinblick auf ihre Karriere legt Ninas Persönlichkeit ihr regelmäßig Steine in den Weg.
Auch wenn Nina jetzt an Meetingtagen genug Schlaf bekommt, ist jedes ihrer Meetings mit dem innigen Wunsch verbunden, heute bloß nichts sagen zu müssen. Anfangs konnte sie sich noch einreden, dass sie heute einfach zu müde ist, es nicht ihr Tag sei, nächste Woche dann. Doch ihr dämmert langsam, dass der Grund dafür tiefer liegt: Sie hasst es, vor Leuten zu sprechen – ganz egal, ob sie eine lange Präsentation halten oder nur ihren Namen nennen muss.
Nun liest Nina einerseits immer wieder, wie wichtig es sei, sich selbst treu zu bleiben – und das nicht nur auf Werbeplakaten. Andererseits hört sie aber auch, dass man sich bewusst aus seiner Komfortzone heraus entwickeln sollte.
Natürlich ist es Nina unangenehm, dass sie in jedem Meeting rot wird oder sich drei Mal räuspern muss, bevor sie sprechen kann. Natürlich weiß sie, wie unprofessionell und unsicher das wirkt.
Aber bei dem Gedanken, einen auf extrovertiert zu machen, fühlt sie sich, als würde sie einen Teil von sich verraten – nur um erfolgreicher und beliebter zu werden. Sollte sie ihre Schwächen nicht mögen, weil sie auch Teil ihrer Persönlichkeit sind? Wäre das nicht authentisch? Und: Wäre das nicht besser?
Wir sagen zwar, wir wollen Authentizität – doch eigentlich wollen wir immer nur dieselben Werte und Eigenschaften in anderen wiederfinden. Das zumindest sagt Biochemikerin Christina Berndt. Wir meinen mit authentisch zwar, unseren eigenen Werten und Empfindungen treuzubleiben, empfinden andere aber dann als besonders authentisch, wenn sie sich gesellschaftlich hochgeschätzten Verhaltensweisen anpassen– und dazu gehört auch, extrovertiert zu sein. Statt also auf das sowieso nur theoretisch vorhandene Konzept der Authentizität zu setzen, plädiert Berndt für
Das bedeutet, dass wir uns nicht zwanghaft an einen grundlegenden Persönlichkeitskern klammern sollten – den haben wir nicht. Der größte Teil unserer Persönlichkeit, so Berndt, liegt in unserer Hand. Egal wie alt oder festgefahren wir sind. Wenn wir etwas an uns ändern wollen, sollten wir zuerst grundsätzlich flexibler werden, uns bewusst machen, dass wir es sind, die unser Verhalten steuern. Dazu wandeln wir festgefahrene Muster ab: Wir gehen eine Stunde früher schlafen oder führen Telefonate neu im Stehen.
Wir finden jene Menschen besonders sympathisch und authentisch, die uns gegenüber mit besonderem Talent eine Rolle spielen.
Christina Berndt
Nina tut also gut daran, sich nicht mit dem Konzept des authentisch-seins unter Druck zu setzten. Sie darf sich verändern – und bleibt trotzdem noch Nina. Gerade, dass Nina aktiv etwas tun möchte, damit sie sich in Meetings wohler fühlt, sagt viel mehr über ihre Person aus, als die Eigenschaft, introvertiert zu sein. Und so nimmt sich Nina vor, mehr über Introvertiertheit zu lesen – und trinkt ihren ersten Kaffee von nun an draußen auf dem Balkon, statt drin vorm iPad.
Ninas Welt
Nina ist 28 und Angestellte im Bereich Marktforschung. In ihrem Büroalltag erlebt sie immer wieder Situationen, in denen sie sich denkt: «Ich kann nicht die einzige mit diesem Problem sein.» Wie gut, dass sie jetzt Zugang zur getAbstract-Bibliothek hat und ihre Lösungsvorschläge Gegenstand unserer neuen monatlichen Arbeitswelt-Kolumne sind, finden Sie nicht?