6. Selbstvertrauen aus Routinen
Nach meinem Studium in St. Gallen fühlte ich mich kurz, als hätte ich die Welt erobert. Der Abschluss in Betriebswirtschaft und Ökonomie, den ich in der Tasche hatte, als ich die Ostschweiz stolz verließ, war mein Ticket zu einer vermeintlich sicheren beruflichen Zukunft – und bei meiner Wahl des Studiums nur wenige Jahre zuvor war genau das mein Ziel gewesen: möglichst schnell möglichst viel übers Geldverdienen zu lernen, um als Kind aus einem Haushalt, der ökonomische Sicherheit nie kennengelernt hatte, die dunklen Geister der Vergangenheit ein für alle Mal loszuwerden. Als ich dann kurz darauf in die Arbeitswelt eintauchte, wurde mir allerdings schnell klar, dass die akademische Theorie wenig mit meinen künftigen realen Herausforderungen zu tun hatte.
Um schnell finanziell auf die Beine zu kommen, entschied ich mich für einen Job in einer Bank. Dort stellte sich jedoch schon in der ersten Woche heraus, dass die Grundlagen, die mir in der Uni vermittelt worden waren, in der Praxis nicht ausreichten. Mein persönlicher Tiefpunkt war das stundenlange Ringen mit einem einfachen Sendungsbogen, den meine Kollegen, allesamt Nicht-Akademiker, in Minuten fertiggestellt hatten.
Als ich glaubte, das Ding endlich ‚fertig‘ zu haben, schaute mein neuer Chef ungläubig auf das Papier, machte dann mit seinem Füllfederhalter einen geraden Strich schräg darüber und reichte es mir wortlos zurück.
Nein, Selbstvertrauen geht nicht automatisch mit einem guten Abschluss einher, mit Erfolgen in der Theorie und beim Verständnis abstrakter Dinge. Im Gegenteil. Sei es nun Ökonomie, Philosophie oder sonst eine theoretische Wissenschaft: Jede und jeder von uns kennt jemanden, der zwar sehr viel weiß, vielleicht eine Koryphäe auf einem speziellen Gebiet ist, sich aber doch irgendwann wünschte, ein „Handwerk“ zu beherrschen. Denn: Selbstvertrauen entsteht durch gewisse Routinen im Alltag, durch das buchstäbliche „Begreifen“ von Sachverhalten und Problemen. Und wer wie ich direkt von der Universität ins Arbeitsleben kommt, hat diese Routinen nur sehr selten, da dort zwar viel relevantes – und wichtiges – Wissen vermittelt wird, selbiges aber erst in der Anwendung Früchte tragen kann.
Führungskräfte sollten deshalb nicht auf ihren akademischen Erfolgen ruhen oder im Betrieb einzig auf theoretische Problemlösungen und Strategien abstellen, sondern sich bewusst sein, dass mangelndes Selbstvertrauen – bis zum heute weit verbreiteten Impostor-Syndrom – oft am „Gap“ zwischen reich vorhandenem Wissen und mangelnder Praxiserfahrung liegt. Kurzum:
Erst wer die Routineaufgaben in einer Organisation kennt und verstanden hat, wird, ausgestattet auch mit dem erworbenen theoretischen Wissen, sie in einen größeren Kontext einordnen können und darauf aufbauend richtige Entscheidungen fällen.
Diese „Fronterfahrung“ führt nicht nur zu gesundem Selbstvertrauen, sie wirkt auch der Hybris entgegen, der anderen großen, aber oft unterschätzten Gefahr für gut ausgebildete Führungskräfte.
Drei Regeln:
- Beherrsche die Grundlagen: Führungskräfte sollten die grundlegenden Fähigkeiten des Bereichs, den sie führen, kennen und „begreifen“, bestenfalls sogar beherrschen. Das Bewusstsein für diese Basics stärkt nicht nur das Selbstvertrauen, sondern erleichtert auch die Bewältigung komplexer Herausforderungen.
- Denk über dich nach: Der Weg zu mehr Selbstvertrauen erfordert regelmäßige Selbstreflexion. Führungskräfte sollten sich stets fragen, ob sie wirklich die Fähigkeiten besitzen, die sie vorgeben zu haben, und bereit sein, an Schwächen zu arbeiten. Ein Sprung ins kalte Wasser macht im Zweifel wenigstens wach.
- Unterstützendes Umfeld schaffen: Familie und Freunde, die bedingungslos unterstützen, wenn jemand in ein „Selbstvertrauensloch“ fällt, sind Gold wert. Führungskräfte sollten sich deshalb ein Umfeld schaffen, in dem Mitarbeitende sich gegenseitig ermutigen und unterstützen, um gemeinsam Selbstzweifel zu überwinden.
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