„Wo Staats- und Gesellschaftsmacht einander in Schach halten, werden die Voraussetzungen für Freiheit geschaffen.“
getAbstract: Herr Acemoğlu, auf den ersten Blick sieht es so aus, als wollten Sie und Ihr Co-Autor James A. Robinson die zentrale Frage „Warum Nationen scheitern“ – so der Titel Ihres Weltbestsellers aus dem Jahr 2012 – in Ihrem jüngsten Buch „Gleichgewicht der Macht“ ein zweites Mal beantworten. Wie kam es zu der erneuten Zusammenarbeit?
Daron Acemoğlu: James und ich haben nach Why Nations Fail nicht aufgehört zusammen zu arbeiten. In diesem Sinne ist auch Gleichgewicht der Macht also eine Fortsetzung unserer Arbeit und unserer Agenda. Sie baut auf unserem vorigen Buch auf, ist aber durchaus eigenständig: Erstens wollten wir unseren Fokus weiten – also nicht nur auf die wirtschaftliche Entwicklung schauen, sondern auf die Grundlagen der Freiheit aller Menschen. Das liegt zum einen daran, dass den Menschen die Freiheit am Herzen liegt – die Fähigkeit und die Möglichkeit, eigene Entscheidungen treffen zu können und nicht von anderen dominiert und herumkommandiert zu werden –, zum anderen ist aber die Entstehung von Freiheit aus der Sicht der Menschheitsgeschichte vielleicht noch überraschender als das Zustandekommen von so etwas geschichtlich außergewöhnlichem wie Wirtschaftswachstum.
Was bedeutete dieser breitere Fokus für Sie als Autoren?
Wir mussten einen ganzheitlicheren Ansatz wählen. Ohne Gesetze lässt sich Freiheit nicht verstehen, da kommt der handlungsfähige Staat ins Spiel. Aber ebenso wenig kann man die Freiheit verstehen, wenn einer Gesellschaft zu viele Gesetze auferlegt werden – da kommt die starke Gesellschaft ins Spiel, die sich gegen Gängelungen wehrt. Drittens lässt sich Freiheit nicht verstehen, ohne über gesellschaftliche Normen zu sprechen, denn diese sind sowohl für die Organisation der Gesellschaft als auch oft als gewaltige Barriere gegen bestimmte Arten von Freiheit von entscheidender Bedeutung. Um all das zu verstehen, mussten wir in der Zeit weit zurückgehen und uns eingehender mit bestimmten Fragen befassen. Zum Beispiel mit Gesetzen, Staatskapazität, Normen und dem Ursprung von Institutionen. All das hatten wir in „Warum Nationen scheitern“ noch als etwas Selbstverständliches angesehen.
„Gleichgewicht der Macht“ ist ein Buch über Freiheit und über die Grenzen, die Staaten und Gesellschaften ihr setzen – deshalb beginnt es mit einer Definition der Freiheit. Eine Definition mithin, die nicht allen geläufig sein dürfte. Sie stammt von dem zeitgenössischen irischen Philosophen Philip Pettit, nicht etwa von den Klassikern Locke, Smith, Rawls, Hayek, Berlin oder Friedman. Warum haben Sie diese Definition gewählt?
Die Antwort beginnt mit dem, was ich gerade erklärt habe. Der Grund, warum es einen „Korridor der Freiheit“ im Wett- und Widerstreit zwischen Staat und Gesellschaft gibt, liegt darin, dass sowohl zu starke Staaten, also solche, die die von oben herab zu viele Gesetze auferlegen, als auch zu schwache Staaten, also solche, die keine Gesetze auferlegen und keine Dienstleistungen erbringen können, mit der Freiheit unvereinbar sind. In einem Korridor, der entsteht, wo Staats- und Gesellschaftsmacht einander in Schach halten, werden die Voraussetzungen für Freiheit geschaffen. Viele klassische Freiheitstheoretiker sahen entweder nur die eine oder nur die andere Seite der Medaille – so ergibt sich aber kein ganzheitliches Bild.
Ausgehend von diesem Begriff untersuchen Sie dann – unter Rückgriff auf Thomas Hobbes, also einen „Klassiker“ – verschiedene Arten von Staatssystemen, „Leviathane“, und inwieweit sie der Freiheit dienen oder nicht. Es überrascht nicht, dass es historisch gesehen die „gefesselten Leviathane“ sind, die die beste Umgebung für die Freiheit bieten, um zu gedeihen; sie öffnen „breitere Korridore der Freiheit“.
Ja, solche Staatssysteme sind mächtig wie Hobbes‘ Leviathan, aber sie unterliegen der Kontrolle und Überwachung der Gesellschaft. Daher der Begriff „gefesselter Leviathan“.
Die „Korridore der Freiheit“, von denen Sie reden, sind selbst bei „gefesselten Leviathanen“ unterschiedlich breit. Was genau passiert in einem solchen Korridor zwischen Staat und gesellschaftlichen Mächten?
Ein entscheidendes Merkmal unserer Konzeptualisierung ist ihre Dynamik. Es ist nicht so, dass man irgendwann einmal das richtige Gleichgewicht zwischen Staat und Gesellschaft erreicht, und dann Freiheit quasiautomatisch entstünde. Zunächst einmal werden Führer, Bürokraten und Politiker ständig versuchen, ihre Macht gegenüber der Gesellschaft zu vergrößern. Sie werden versuchen, ihren Willen durchzusetzen und die Einschränkungen zu lockern, die die Bürger ihnen mit gutem Grund auferlegt haben. Ebenso werden aber einige Teile der Gesellschaft möglicherweise versuchen, Gesetze zu schwächen oder zu umgehen, um wiederum ihren Machtbereich auszudehnen. Das Gleichgewicht zwischen Staat und Gesellschaft muss also Tag für Tag austariert und neu bestimmt werden. Aber noch grundsätzlicher: Wir leben in einer sich rasant und ständig verändernden Welt.
Das bedeutet, dass der Staat gefordert sein wird, neue Dienstleistungen zu erbringen, sich mit neuen Erfordernissen auseinanderzusetzen und neue Kompetenzen zu entwickeln. Das bedeutet aber auch, dass die Gesellschaft noch wachsamer werden muss.
Ich habe mir das ein bisschen wie einen Staffellauf vorgestellt: Verschiedene Akteure laufen zusammen, aber nicht immer mit- und füreinander, manchmal sogar gegeneinander.
Ein Staffellauf ist ebenfalls ein gutes Bild für diesen Prozess. Im Buch verwenden wir stattdessen Lewis Carrolls „Rote Königin“-Analogie: Beide Seiten müssen sehr schnell laufen, um miteinander mithalten zu können – neutralisieren sich dabei aber gegenseitig. Es ist ein Bild, das, wie wir hoffen, dieses Gefühl von Dynamik und Zerbrechlichkeit vermittelt, das der Freiheit innewohnt.
Überraschenderweise findet sich der größte Korridor der Freiheit heute vielleicht nicht in den Vereinigten Staaten, dem „Land of the Free“, wie Sie argumentieren, sondern in Schweden oder der Schweiz. Können Sie das näher erläutern?
Nun, das liegt ebenso an den Problemen der Vereinigten Staaten wie an den Erfolgen Schwedens und der Schweiz.
Am Beginn der Vereinigten Staaten steht ein Faustischer Handel: Der junge Bundesstaat musste sich dort selbst beschränken und quasi seine Hände binden, um für das amerikanische Volk und die dortigen Eliten akzeptabel zu sein.
Gleichzeitig sollte er das auf Sklaverei basierende Wirtschaftssystem im Süden akzeptieren und verinnerlichen. Dies bedeutete insbesondere, dass er sich absichtlich aus vielen lokale Angelegenheiten heraushielt und somit am Ende nur über sehr eingeschränkte Befugnisse zur Erbringung öffentlicher Dienstleistungen, etwa zur Bekämpfung der Armut und zur Regulierung der Wirtschaftstätigkeit, verfügte, was ihn bis heute schwächt. Die andere Seite dieser „Freiheits“-Medaille war nämlich die endemische Unfähigkeit des amerikanischen Staates, die lokalen Angelegenheiten zu überwachen. Dies machte es dem amerikanischen Leviathan viel schwerer, seine schwächsten Bürger zu schützen oder für ein Mindestmaß an Umverteilung zu sorgen – von Steuererhöhungen gar nicht erst zu reden. Unbeeinträchtigt von diesen Zwängen konnten viele europäische Länder, nicht zuletzt Schweden und die Schweiz, Staaten mit viel größerer Kapazität entwickeln.
Was mitunter auch sehr problematisch war. Aber: wie ging das vonstatten?
Vieles davon geschah aus der Notwendigkeit heraus: In Zeiten der wirtschaftlichen Depression und verschärfter Konflikte musste der Staat eingreifen, um das System zu reformieren und die Verteilung der Ressourcen zu verbessern. Der große Ökonom Friedrich August von Hayek dachte, dies sei das Ende der Freiheit, und sagte dies in seinem Bestseller Der Weg zur Knechtschaft. Aber er lag falsch: denn die Gesellschaft wurde, getreu dem Rote-Königin-Effekt, aktiver und wachsamer, um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen und diesen mächtigeren Staat zu überwachen.
Was zeichnet die Schweiz dabei konkret aus?
Die Schweiz hat eine faszinierende Geschichte. Sie sehen hier, wie sich der Tanz zwischen einem starken Staat und einer starken Gesellschaft allmählich entwickelt. Bei der Gründung der Schweizerischen Eidgenossenschaft im Jahr 1291 geht es noch um die Zentralisierung der Macht, sowohl um die lokalen Machtkämpfe zu unterbinden und lokale Streitigkeiten zu bewältigen, als auch um den internationalen Bedrohungen durch andere mächtigere Staaten, insbesondere das Heilige Römische Reich, entgegenzutreten. Dies ist der Beginn des modernen Bundesstaats, wobei die Kantone und lokalen Organisationen dann aber ihrerseits auf eine beträchtliche Autonomie und Stimme pochten, beides durchsetzten. In gewisser Weise ist das ein idealer Weg für die Entwicklung eines gefesselten Leviathans. Der Fall der Schweiz verdeutlicht aber auch die dynamischen Aspekte der Entwicklung der Freiheit:
Die Ausdehnung der Freiheit auf zuvor von ihr ausgeschlossene Gruppen ist immer ein Kampf, der sich langsam entwickelt, aufbaut und oft mit erheblichen Gegenreaktionen verbunden ist.
Im Fall der Schweiz beispielsweise wurde die rechtliche Stärkung der Frauen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern erst mit großer Verspätung in Angriff genommen.
Wie verhält sich im Vergleich dazu etwa die Türkei, die Sie institutionell auch sehr gut kennen und deren Freiheitskorridore sich in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten stark verändert haben?
In der Türkei lebt die despotische Vergangenheit wieder auf. Obwohl die osmanische Geschichte und die türkisch-republikanische Geschichte in vielerlei Hinsicht einzigartig sind, sind die Probleme, mit denen die Türkei konfrontiert ist, immer wieder dieselben: ein sehr starker, dominanter Staat, und ihm gegenüber eine schwache Gesellschaft, die unorganisiert ist und der es an Vertrauen fehlt. Es hat Zeiten gegeben, in denen die Gesellschaft stärker mobilisieren konnte, aber das hat nie ausgereicht, um die Türkei in den Korridor der Freiheit zu führen.
Schauen wir uns die verschiedenen Leviathane noch kurz genauer an. In Ihrem Buch erwähnen Sie auch anarchistische Systeme – also Länder ohne Staatsmacht, ohne Leviathane –, die institutionell „frei von Zwängen“ sind. Sie schneiden, wie Somalia, genauso schlecht ab wie ein „Papier-Leviathan“ wie Simbabwe, wo die Staatsmacht nur auf dem Papier existiert. Warum?
Dies ist ein weiterer Punkt, den wir fundamental anders sehen als Thomas Hobbes. Er dachte, das Fehlen zentralisierter Staaten bedeute eine Form der Anarchie – den Krieg aller gegen alle.
Tatsächlich aber sind die meisten kleinen, staatenlosen Gesellschaften nach historischen Maßstäben recht friedlich. Sie haben Normen und Traditionen entwickelt, um Konflikte einzudämmen und Streitigkeiten zu lösen. Aber das macht sie natürlich nicht frei.
Im Gegenteil, dieselben Normen und Traditionen schaffen das, was wir einen „Normenkäfig“ nennen – ein sehr strenges Regiment gesellschaftlicher Verpflichtungen und Erwartungen, das schwer zu durchbrechen ist, sowie, damit einhergehend, eine starre soziale Hierarchie. Aus diesem Grund verbringen wir in diesem Buch viel Zeit damit, zu erklären, warum der Käfig der Normen aufgebrochen werden muss, damit die Freiheit „ausbrechen“ kann.
Es scheint kein allgemeines Rezept dafür zu geben, wie man genau dafür sorgen kann, dass der Korridor breiter wird, wie Sie im Buch schreiben. Gibt es denn immerhin allgemein gültige Indikatoren dafür, dass der Korridor der Freiheit enger oder weiter wird? Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass das „öffentliche Vokabular“ oder die Behandlung von Minderheiten solche Indikatoren sind.
Ja, absolut. Wie breit der Korridor ist, ist von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden. Aber es ist sehr schwierig, den Korridor zu konstruieren oder breiter zu machen. Sicherlich spielt die Wirtschaftsstruktur eine Rolle. Wie wir feststellen, wird der Korridor nie sehr breit sein, wenn die Wirtschaftsbeziehungen überall von Zwang abhängen. Umgekehrt können bestimmte Wirtschaftsstrukturen – zum Beispiel auf der Grundlage von Humankapital und Spezialisierung – und bestimmte Normen der Bürgerbeteiligung den Korridor breiter machen. Ein breiter Korridor wiederum schafft dann mehr Raum für die Freiheit, sich im Laufe der Zeit weiterzuentwickeln. Aber wie ich schon sagte, es ist ein Prozess. Und der schwierigste Teil des Prozesses besteht darin, diese Freiheiten und Rechte auf ausgegrenzte Gruppen wie ethnische und religiöse Minderheiten auszudehnen. In diesem Sinne stimme ich also zu, dass die Behandlung von Minderheiten und Dissidenten ein sehr guter Indikator dafür ist, wie weit die Freiheit vorangeschritten ist. Mit dieser Einsicht endet auch das Buch.
Gleichsam kommen wir zum Ende unseres Gesprächs. Letzte Frage: Können Sie uns sagen, welche Bücher Sie derzeit lesen – oder so bald wie möglich lesen möchten?
Ich habe gerade Richard Wranghams wunderbares The Goodness Paradox, Matt Taibbi’s deprimierendes und nachdenklich stimmendes The Divide, Nick Bostrom’s unterhaltsames Superintelligence, Binyamin Appelbaum’s interessantes, nachdenklich stimmendes, aber vielleicht letztlich doch vereinfachendes Buch The Economist‘s Hour und Sheri Berman’s Democracy and Dictatorship in Europe gelesen. Ich freue mich nun auf die Lektüre von James Gleicks The Information.
Daron Acemoğlu ist Ökonom und Politikwissenschaftler, er lehrt als Professor am MIT. Mit James A. Robinson publizierte er den Weltbestseller Warum Nationen scheitern und nun sein neustes Buch Gleichgewicht der Macht (Engl.: The Narrow Corridor).