Nach der Reform sind viele gleicher
Nach dem Krieg sind alle gleich

Nach der Reform sind viele gleicher

Die Reichen werden immer reicher und die Armen nicht schnell genug reich. Im Lauf der Jahrtausende haben nur katastrophale Ereignisse etwas an diesem Naturgesetz ändern können, sagt Walter Scheidel – und ignoriert damit den wichtigsten Teil unserer jüngeren Geschichte.

Die vier apokalyptischen Reiter der Gleichheit

Im Jahr 2010 besaßen 388 Milliardäre so viel Vermögen wie die ärmste Hälfte der Weltbevölkerung. 2015 war diese Zahl auf 62 Menschen geschrumpft. Und 2018? Da waren es laut der britischen Hilfsorganisation Oxfam nur noch 26. Das ist grotesk und nach Ansicht vieler Beobachter ein Spiel mit dem Feuer. Nicht so für den österreichischen Historiker Walter Scheidel: Er glaubt, dass sich in dieser Entwicklung ein uraltes Naturgesetz manifestiert. Ökonomisch-soziale Ungleichheiten sind danach ein Grundpfeiler der menschlichen Zivilisation. Denn Ungleichheit folgt auf positive gesellschaftliche Entwicklungen und wirtschaftlichen Fortschritt. In primitiven Jäger-und-Sammler-Gesellschaften gab es nur geringen Wohlstand und deshalb auch wenig Ungleichheit. Als die Menschen sesshaft wurden, konnten sie Kornvorräte anlegen, Landbesitz anhäufen und ihren Wohlstand im Vergleich zu anderen steigern. Eine Voraussetzung hierfür ist nach Ansicht des Autors politische Stabilität: Die war sowohl im Ägypten der Pharaonen als auch im viktorianischen England gegeben.

Was aber hat in der Menschheitsgeschichte zur Abnahme von wirtschaftlicher Ungleichheit geführt? Scheidels Fazit ist simpel und düster zugleich: Massenmobilisierungskriege, gewalttätige Revolutionen, totales Staatsversagen oder verheerende Pandemien. Das alles – und sonst nichts. Scheidel spricht von den „vier apokalyptischen Reitern“. Am Beispiel der verheerenden Kollektivierungen unter Stalin und später unter Mao in China verdeutlicht er den Preis für steigende wirtschaftliche Gleichheit im Anschluss an ideologische Revolutionen: Komplettauslöschung gesellschaftlicher Eliten, millionenfacher Hungertod und Sklavenarbeit in „Umerziehungslagern“.

Wir sollten uns gut überlegen, was wir uns wünschen.

Walter Scheidel

Auch die zwei verheerenden Weltkriege im 20. Jahrhundert haben Gesellschaften hervorgebracht, die deutlich egalitärer waren als je zuvor. Zwischen 1914 und 1945 fiel der Anteil von Japans reichstem 1 Prozent um zwei Drittel. In Frankreich, Dänemark, Schweden, Großbritannien und Finnland sank ihr Anteil um die Hälfte oder mehr, in den USA um ein Drittel. Gründe hierfür waren hohe Kriegssteuern, Inflation, die Zerstörung von Immobilien und Produktionsanlagen und schwindende Gewinne. 1944 erreichte der US-Spitzensteuersatz auf Einkommen 94 Prozent. Die Reichen, so Scheidel, hätten einfach mehr zu verlieren und die Armen mehr zu gewinnen gehabt.

Der Stanford-Historiker rechnet mittelfristig nicht mit sinkender Ungleichheit – ganz einfach weil die egalisierende Wirkung der vier apokalyptischen Reiter nachlasse. Forderungen nach fiskalischen Umverteilungsmaßnahmen sieht er skeptisch. So müsste beispielsweise die Belastung des obersten 1 Prozent der Einkommenspyramide in den USA fast verdoppelt werden, um den Anteil dieser Gruppe am verfügbaren Haushaltseinkommen wieder auf das Niveau von 1979 zu bringen – was er für unrealistisch hält.

Den Krieg vermeiden und dennoch umverteilen

Scheidel zitiert Thomas Piketty zwar als Kronzeugen, tut sich damit aber keinen Gefallen. Denn der französische Ökonom argumentiert in Kapital und Ideologie genau gegenteilig: Er hält Ungleichheit eben nicht für naturgegeben. Vielmehr werde sie immer von Menschen gemacht und gerechtfertigt. Bei Piketty erfährt man auch, dass der Spitzensteuersatz der US-Einkommenssteuer von 1932 bis 1980 durchschnittlich bei 81 Prozent lag und erst unter Ronald Reagan auf 28 Prozent sank. Beide Extreme lassen sich weder auf apokalyptische Reiter noch auf die Manifestierung eines Naturgesetzes zurückführen – sondern schlicht auf bewusste politische Weichenstellungen. Tatsächlich rechnet Piketty vor, dass Steuer- und Sozialreformen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine deutlich stärker egalisierende Wirkung hatten als etwa die kriegsbedingte Zerstörung von Kapitalstock.

Wie Piketty erklärt, ist der Rückgang des Einkommensanteils des reichsten Prozents zwischen 1914 und 1945 zur Gänze auf den Verlust von Nichterwerbseinkommen zurückzuführen; das Kapital wurde durch Kampfhandlungen, Bankrotte, Mietpreisbindung, Verstaatlichung und Inflation dezimiert.

Walter Scheidel

Was die Geschichte des 20. Jahrhunderts betrifft, hat Walter Scheidels Analyse viele blinde Flecken. Die Erfolge der Sozialdemokratie und ihren Anteil an der Entstehung einer breiten Mittelklasse blendet er aus. Wenn aber vor allem die zwei Weltkriege nivellierend wirkten, warum herrscht dann ausgerechnet in der neutralen Schweiz und in den weniger kriegsversehrten skandinavischen Ländern eine vergleichsweise geringe Ungleichheit – gepaart mit robustem Wachstum, stabilem Wohlstand und hoher gesellschaftlicher Zufriedenheit? Möglicherweise ist es genau andersherum: Wenn Staaten beide Flüche – Krieg und hohe Ungleichheit – vermeiden können, gewinnen sie doppelt, nämlich eine größere Verteilungsmasse und eine stabile Gesellschaft. Scheidels Einwand, dass die hohe skandinavische Staatsquote schädlich fürs Wachstum sei, wurde bereits mehrfach widerlegt. Tatsächlich mindert hohe gesellschaftliche Ungleichheit das langfristige Wachstumspotenzial, vor allem wenn dadurch das Humankapital eines Landes abnimmt.

Auch die Sklaverei galt einst als unabänderlich

Die Studie ist spannend und pointiert geschrieben. Aber sie vermag nicht auf ganzer Linie zu überzeugen. Denn mit der gleichen logischen Stringenz ließe sich behaupten, Sklaverei, Rassismus oder die Entrechtung von Frauen seien unveränderliche historische Tatsachen – schließlich habe es sie schon immer gegeben und sämtliche Versuche, etwas daran zu ändern, seien erstens teuer erkauft und zweitens künftig zu vermeiden.

Der Guardian-Journalist Paul Mason ist anderer Ansicht. Er verweist auf den erfolgreichen sozialdemokratischen Mittelweg zwischen Raubtierkapitalismus und Kommunismus. Zwar sei vielen zuletzt die Lust an der Umverteilung vergangen, was Kleptokraten, Mafiosi und korrupten Populisten Tor und Tür geöffnet habe. Die pessimistische Prämisse des Buchs akzeptiert er dennoch nicht. Zu Recht. In diesem Sinne ist Walter Scheidel zuzustimmen: Wir sollten uns wirklich gut überlegen, was wir uns wünschen.

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