Gelegenheit macht erfolgreich
Überflieger

Gelegenheit macht erfolgreich

Angeborene Talente? Sind bestenfalls die Grundlage, aber keine Garantie zum Erfolg. Der Überfliegerautor Malcolm Gladwell demontiert alte Mythen und zieht neue aus dem Hut.

Erfolg fällt nicht vom Himmel

Was haben die Beatles mit Bill Gates gemein? Ganz sicher nicht die Frisur, auch nicht Coolness-Faktor oder Sexappeal. Glaubt man Malcolm Gladwell, ist ihr beiderseitiges Erfolgsgeheimnis eher unspektakulär: glückliche Umstände und viel, sehr viel Übung. Die damals noch unbekannten Beatles mussten sich in den frühen 1960er-Jahren in Hamburg schwer abrackern. John Lennon sagte dazu später: „Wir wurden immer besser und selbstbewusster. Wir konnten gar nicht anders – mit der Erfahrung durchgespielter Nächte im Nacken.“

 

Wir zollen den Erfolgreichen übertriebene Bewunderung und den Erfolglosen übertriebene Verachtung.

Malcolm Gladwell

Der junge Bill Gates hingegen verbrachte jede freie Minute vor dem Computer. Er hatte das Glück, dass ihm an seiner Schule einer der modernsten Computer der damaligen Zeit zur Verfügung stand. Mit 20 hatte er bereits mehr als 10 000 Stunden programmiert – genau die Zeit, die ein talentierter Mensch Gladwell zufolge üben muss, um es zu etwas zu bringen. Wenn damals nicht nur einige wenige, sondern eine Million Teenager die gleiche Chance wie Gates erhalten hätten, so Gladwell, wie viele Microsofts gäbe es dann wohl heute? Eine bemerkenswerte Frage – vor allem wenn man bedenkt, dass der Quasi-Monopolist dieses Szenario stets erbittert bekämpft hat. Aber das ist eine andere Geschichte.

Malcolm Gladwell ist selbst einer der erfolgreichsten Sachbuchautoren aller Zeiten. Der Tipping Point (2000) und Blink (2005) hatten ein Millionenpublikum und er selbst längst Kultstatus erreicht, als er 2008 mit Überflieger nachlegte. Wie schon in seinen Vorgängerwerken rüttelt er darin an vermeintlich konventionellen Denkweisen und baut einen Strohmann auf: die Geschichte des Tellerwäschers, der es durch eine Kombination von Begabung und Leistungsbereitschaft zum Millionär gebracht hat – der Inbegriff des amerikanischen Traums. Dass dieser ins Reich der Mythologie gehört, ist freilich weder neu noch originell. Doch Gladwell liefert wie immer die richtigen Zutaten für sein Erfolgsrezept: amüsante Storys, verblüffende Anekdoten und einen fesselnden Stil.

Das Glück der frühen Geburt

Wer hätte etwa gedacht, dass sportlicher Erfolg ganz entscheidend vom Geburtsdatum abhängt? Zumindest gilt das für Eishockeyspieler. In den meisten Profiligen sind rund 40 Prozent der Spieler im Januar, Februar und März geboren, aber nur 10 Prozent im Oktober, November oder Dezember.

 

Die Überflieger kommen durch eine Kombination aus Fähigkeiten, Möglichkeiten und zufälligen Vorteilen nach oben.

Malcolm Gladwell

Der Grund: Der Stichtag für die meisten Hockeyligen ist der 1. Januar, und die Altersgruppen richten sich nach dem Geburtsjahrgang. Ein Junge, der am Jahresbeginn Geburtstag hat, ist von Natur aus etwas größer, schneller und kräftiger als seine Teamkollegen, wird eher gefördert und hat deshalb bessere Chancen auf eine Profikarriere. Das Glück der frühen Geburt wird so zu einem echten Wettbewerbsvorteil.

Das Pech der fehlenden Vorbilder

Und die Intelligenz? Spielt eine viel geringere Rolle, als man denkt. Der amerikanische Psychologe Lewis Terman förderte Anfang des 20. Jahrhunderts gezielt knapp 1500 Kinder, die laut IQ-Test hochbegabt waren. Doch trotz seiner Anstrengungen machten nur wenige von ihnen Karriere, einige waren durchschnittlich erfolgreich und andere scheiterten. Als er die Gründe dafür herauszufinden versuchte, stieß er auf ein Muster: Die Erfolgreichen stammten überwiegend aus der Mittel- und Oberschicht, die Erfolglosen dagegen aus der Unterschicht.

 

Die Erfolgreichen sind nicht diejenigen mit dem höchsten Intelligenzquotienten.

Malcolm Gladwell

Das Pech, in die falsche Familie geboren zu werden, hatte auch der Amerikaner Chris Langan. Mit einem IQ von 200 galt er als einer der begabtesten Menschen der Welt. Dennoch brach er zweimal sein Mathematikstudium ab und endete schließlich als Türsteher. Da er aus der Unterschicht stammte, schlussfolgert Gladwell, hatte er nie gelernt, selbstsicher aufzutreten und andere von seinen Zielen zu überzeugen.

Vom Reisbauern zum Mathegenie

Schließlich ist da noch die Kultur: Gladwell zufolge waren einst koreanische Flugzeuge besonders unfallgefährdet, weil die Machtdistanz unter Koreanern hoch ist. Viele trauten sich nicht, den Chefpiloten auf Fehler aufmerksam zu machen – bis es zu spät war. Erst seit die koreanische Fluggesellschaft ihr Personal entsprechend schult und Englisch als Arbeitssprache eingeführt hat, gehen die Unfallzahlen zurück. Heute gehören ihre Flugzeuge zu den sichersten weltweit.

Auch die vom Westen oft argwöhnisch betrachteten Matheleistungen der Ostasiaten erklärt der Autor anhand von kulturellen Unterschieden: In Ostasien wird seit Jahrtausenden Reis gepflanzt. Der Reisanbau ist äußerst kompliziert und erfordert viel Anstrengung und Disziplin – genau die Eigenschaften, die man braucht, um eine Mathematikaufgabe zu lösen.

Binsenweisheiten und selektive Beispiele

Und genau hier liegt das Problem: Malcolm Gladwells Vorgehensweise ähnelt der eines Schützen, der erst den Pfeil abschießt und anschließend die Zielscheibe drumherum malt. Er zitiert Beispiele, um Thesen zu illustrieren, die haarscharf am Rand von Binsenweisheiten entlangschrammen – und blendet solche aus, die nicht Schwarze treffen. 

 

Erfolgreiche Menschen arbeiten sich nicht allein nach oben. Es spielt eine ganz entscheidende Rolle, wo sie herkommen. Sie sind immer das Produkt ihrer Umwelt und ihrer Umstände.

Malcolm Gladwell

Viele Fragen bleiben offen. Was, wenn die Geschichte des Reisanbaus nicht nur eine disziplinierte, sondern eine extrem hierarchisch aufgebaute Kultur gefördert hat? Eine, die nicht nur Mathematikgenies hervorbringt, sondern auch abstürzende Flugzeuge? Und wie lässt sich anhand der 10 000-Stunden-Regel erklären, dass zeitgleich mit den Beatles auch bekennende Dilettanten wie die Rolling Stones Welterfolge feierten? Michiko Kakutani kritisierte in der New York Times, dass Gladwell die Menschen zu Spielfiguren ihres kulturellen Hintergrunds mache und sein Fokus auf Klassenzugehörigkeit und historische Zufälle die Bedeutung individueller Leistungen herunterspiele. Das Buch ist der Kritikerin zufolge „peppig und eingängig geschrieben und fordert uns auf lebhafte Weise heraus. Es ist aber auch oberflächlich, schlecht begründet und wenig überzeugend.“ Ihr Kollege David Leonhard kam zu einem anderen Schluss: „Nach einem Jahrzehnt – eigentlich einer ganzen Generation – da dieses Land kaum in Institutionen investiert hat, die Erfolg fördern, drängt Gladwell uns zum Umdenken.“ Ob er damit Erfolg hatte? Auch in dieser Frage dürften die Meinungen auseinandergehen.

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