Die dubiose Macht des Moments
Blink!

Die dubiose Macht des Moments

Bauchgefühle können innerhalb von Sekunden Spekulationsgewinne steigern, Solistinnen in Sinfonieorchestern verhindern und Stresssituationen auf die Spitze treiben. „Denken ohne zu denken“ nennt der Bestsellerautor Malcolm Gladwell das – und denkt dabei selbst etwas zu kurz.

Zwei Sekunden: So lange brauchten Kunstexperten, um eine vermeintlich antike Marmorstatue als Fälschung zu erkennen. Gute zwei Sekunden benötigten auch vier weiße US-Polizeibeamte, um einen unbewaffneten Schwarzen mit 41 Schüssen zu durchlöchern, weil sie die Geldbörse in der Hand des Mannes für eine Pistole gehalten hatten. Zwei Sekunden – der „Blink-Moment“ in unserem adaptiven Unbewussten, der laut Malcolm Gladwell über Sieg oder Niederlage, Zu- oder Abneigung, Leben oder Tod entscheiden kann.

In typisch Gladwellʼscher Manier erzählt er überraschende und schockierende Geschichten mit Wow-Effekt: Der Milliardär und Investmentbanker George Soros etwa kaufe und verkaufe immer dann Aktien, wenn er schlimme Rückenschmerzen bekommt. Aha, denkt man da unwillkürlich, vielleicht lassen sich die leidigen Zipperlein gar in klingende Münze verwandeln? Doch schon im nächsten Kapitel warnt er vor den Fallen, die uns unser Unbewusstes immer wieder stellt: In den USA durchgeführte Studien haben gezeigt, dass vier Fünftel aller Testpersonen und über die Hälfte der Afroamerikaner intuitiv positive Begriffe mit weißer Hautfarbe in Beziehung setzten. Nicht einmal den engagiertesten Antirassisten gelang es, diesen Effekt auszuschalten.

 

Wir sind unseren ersten Eindrücken nicht hilflos ausgeliefert. Sie drängen aus dem Unbewussten herauf, sie entstehen hinter einer verschlossenen Tür – doch das heißt noch lange nicht, dass wir keinen Einfluss auf sie haben.

Malcolm Gladwell

Manche Vorurteile sind so tief verankert, dass jeder Widerstand zwecklos ist. Deshalb geht man inzwischen dazu über, den Blick auf die Auslöser zu verstellen: Beim Probespielen für begehrte Solistenstellen in Sinfonieorchestern wurde irgendwann ein Wandschirm eingeführt. Dirigenten konnten nun nicht mehr sehen, wer die Töne hervorbrachte. Verwundert und oft zähneknirschend mussten sie feststellen, dass eine zierliche Japanerin dem Horn – einem vermeintlichen Männerinstrument – schönere Musik entlocken kann als ein kräftig gebauter Österreicher. Laut Gladwell fördert der Wandschirm den Blink-Moment, indem er die Sinne für das Wesentliche schärft.

Geistreiche Geschichten mit einer Prise Populär-Psychologie

Dem Autor wurde wiederholt vorgeworfen, er verkaufe die Illusion der „magischen Intuition“. Das stimmt zwar nicht ganz. Immerhin weist er wiederholt auf die Unzuverlässigkeit des ersten Eindrucks hin, etwa wenn er das Dilemma der Marktforschung beschreibt: Die meisten Testpersonen können ihren ersten Eindruck nur schwer in Worte fassen, was zu spektakulären Flops wie der Einführung von Coca-Colas „New Coke“ führte – ein Produkt, das hastig vom Markt genommen und durch „Classic Coke“ ersetzt wurde. Dennoch bleibt bei der Lektüre das Gefühl, dass die Buchprämisse in einem Blink-Moment entstanden ist: verrührt mit geistreichen Geschichten, abgeschmeckt mit pfiffigen Beispielen und gewürzt mit einer Prise Populär-Psychologie – fertig ist der Bestseller!

Von der großen Idee zu Anekdoten und Alltagsbeobachtungen

Der Berater und Erfolgsautor Malcolm Gladwell ist von Haus aus Journalist. Er arbeitete zunächst für die Washington Post und später für den New Yorker. Den Duktus des aufsehenerregenden Enthüllers hat er nie ganz abgelegt. Allerdings muss man ihm zugutehalten, dass er daraus nie ein Geheimnis machte. Auf die Frage nach seiner Zielgruppe sagte er einmal. „Ich nehme immer meine Mutter – eine interessierte, offene Frau in mittlerem Alter.“ Als begnadeter Reiseführer nimmt er sein Laienpublikum mit in fremde, skurrile Welten, unterhält sie mit Anekdoten und Alltagsbeobachtungen, macht unterwegs Halt in der Verhaltenspsychologie und konsultiert hier und da einen Querdenker. Das kann man lästig finden – oder aber als leserfreundlich begrüßen. Für alle, die anschließend noch weiterreisen und -denken möchten, empfiehlt sich die Lektüre von Daniel Kahnemans Schnelles Denken, langsames Denken. In The Atlantic wurde dieser als „Anti-Gladwell“ gepriesen – ein Schuh, den Kahneman sich freilich nie anziehen wollte.

Zu schnell gedacht und kurz gesprungen

Tatsächlich ist es das langsame Denken, das in Blink! zu kurz kommt. Gladwell macht zwar deutlich, dass wir gute Spontanentscheidungen nicht intuitiv treffen können. Vielmehr sollten wir Informationen blitzschnell in winzige Scheibchen schneiden, die sich mit unseren Erfahrungen decken, damit unser Unterbewusstes in diesen Scheibchen Muster wiedererkennen kann.

 

Spontanentscheidungen können deshalb spontan getroffen werden, weil sie schlank sind, und wenn wir unsere Fähigkeit behalten wollen, Spontanentscheidungen zu treffen, müssen wir dafür sorgen, dass sie auch schlank bleiben.

Malcolm Gladwell

Wie dieses „thin-slicing“ funktioniert, erklärt er am Beispiel des „Liebeslabors“: Der Psychologe John Gottman ließ darin junge Ehepaare wenige Minuten vor laufender Videokamera über ein leicht kontroverses Thema in ihrer Beziehung reden und maß dabei Herzfrequenz, Schweißausschüttung und Hauttemperatur. Aufgrund seiner Analyse konnte er anschließend mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit vorhersagen, ob die Ehe auch in 15 Jahren noch Bestand haben würde. Denn Gottman interessiert sich nur für wenige Verhaltensmuster, die seiner Ansicht nach auf eine bevorstehende Trennung hindeuten: Blockade, Kritik, Verteidigungshaltung und vor allem Verachtung. Hoppla, hat dieser Mann den Schlüssel zur ewigen Liebe gefunden?

Am Ende bleibt in Gladwells Buch manches im Dunkeln. Können „thin-slicing“ oder andere Methoden des schnellen Denkens rassistisch motivierte Polizeigewalt wie im eingangs erwähnten Fall verhindern? Der Autor schlägt vor, die Fähigkeit des Gedankenlesens in Stresssituationen gezielt zu trainieren. Doch im wahren Leben bilden Spontan-, Stress-, und Vorurteile wohl eine so komplexe Gemengelage, dass ihnen auch mit simplen Rezepten aus der Gladwell-Küche nicht beizukommen ist.

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