„First World Problems“, oder: Wie man (nicht) glücklich wird

Die transatlantische Kolumne. In der letzten Kolumne haben wir das Thema „Glück“ bereits gestreift, es begleitet mich in den USA auf Schritt und Tritt. Kürzlich kam ich mit Carlos, einem venezolanischer Uber-Fahrer in New York ins Gespräch. „In meiner Heimat haben wir drei Basisprobleme“ erklärte er mir. „Habe ich heute genug zu essen? Bin ich […]

Vince Ebert, fotografiert von Frank Eidel.
Vince Ebert, fotografiert von Frank Eidel.

Die transatlantische Kolumne.

In der letzten Kolumne haben wir das Thema „Glück“ bereits gestreift, es begleitet mich in den USA auf Schritt und Tritt. Kürzlich kam ich mit Carlos, einem venezolanischer Uber-Fahrer in New York ins Gespräch. „In meiner Heimat haben wir drei Basisprobleme“ erklärte er mir. „Habe ich heute genug zu essen? Bin ich gesund? Und: Habe ich ein Dach über dem Kopf? Das sind essenzielle, aber simple Probleme. Wenn Venezolaner abends satt und gesund im Bett liegen, dann hatten sie einen guten Tag. Sie schließen die Augen und schlafen zufrieden ein. Morgen ist ein neuer Tag.“ New Yorker dagegen liegen die ganze Nacht wach, weil sie über ihren neuen Handytarif nachgrübeln…

Einfach vs. komplex

Carlos ist freilich nicht der einzige, der so redet. Wenn man sich mit Menschen aus Drittweltländern unterhält – egal ob aus Kuba, aus dem Sudan oder aus Berlin –, dann erzählen sie dir alle, dass die Probleme in ihrer Heimat zwar essenziell, aber simpel sind. In unseren Wohlfahrtsstaaten ist es derweil genau andersherum: Unsere Probleme sind selten lebensentscheidend, dafür aber besonders komplex: Welcher Job ist der richtige? Sollte ich lieber regionale Produkte kaufen? Gilt der Odenwald als regional, wenn ich im Frankfurter Biomarkt einkaufe? Und überhaupt: Amazon Prime oder Netflix? Tinder oder Hinge? Oder doch GayRomeo?

Die Sache hat System, und sie hat weit mehr mit unserer Einstellung zum Glück zu tun als mit dem Glück selbst. Ein Beispiel: Letzte Woche habe ich mir einen Toaster gekauft, der schlauer ist als ein durchschnittlicher Gymnasiast. Mit IR-Sensor, USB-Anschluss und 8 Gigabyte Arbeitsspeicher. Das Ding hat mehr Rechenpower als die NASA für die erste Apollo-Mission.

Inzwischen können wir also wissenschaftlich besser abgesichert ein Stück Brot toasten als Neil Armstrong auf den Mond geflogen ist. Doch dieser High-Tech-Luxus sorgt nicht für Entspannung, sondern für Verwirrung. Denn wir verstehen ihn nicht (mehr):

Bis vor wenigen Jahrhunderten wusste jeder Mensch sein – deutlich kürzeres – Leben lang ganz genau, wie Kleidung gefertigt, gejagt oder Feuer gemacht wird. Heute hat allein die Bedienungsanleitung eines wiederaufladbaren Plasma-Lichtbogenfeuerzeuges 250 Seiten.

Inzwischen werden wir im Schnitt auch bald 100 Jahre alt, hoffen aber jederzeit instinktiv, dass es in einem Leben danach kein Onlineshopping mehr gibt. Es ist das Paradox unserer modernen Kultur der Arbeits- und Wissensteilung: wir haben von allem so unvorstellbar viel mehr als all unsere Vorfahren, aber die damit verbundenen Abhängigkeiten machen uns hilflos und reizbar. Erst gestern habe ich mit Panik reagiert, als mein Laptop drohte: „Update wird gestartet. Nicht ausschalten!“

Moderne vs. Nostalgie

„Stell‘ Dir vor, vorgestern standen wir auf dem JFK geschlagene vierzig Minuten auf dem Rollfeld!“ beschwerte sich mein Kumpel Jeff neulich bei mir. „Ja und?“ erwiderte ich. „Ist dir eigentlich klar, dass du in dem Moment in einer 100 Tonnen schweren Stahlröhre sitzt und darauf wartest, gleich in 10.000 Meter Höhe mit 900 Kilometern pro Stunde über den Atlantik geschossen zu werden?“ „…und ich muss mein Sandwich selbst zahlen!“ „Aber Du fliegst, Jeff! In einem Sessel!“ „…den man ja nie richtig nicht nach hinten kippen kann, ohne dass die Knie…“ – Jedes Mal, wenn ich mit Jeff eine solche Diskussion führe, stelle mir vor, wie er seine Probleme den Gebrüdern Wright erläutert. Was hätten die wohl gesagt? „Och, das ist ja blöd. Vielleicht lassen wir die Sache mit dem Fliegen dann lieber. Das ist es wirklich nicht wert …“

Der US-Amerikaner nennt das: „First World Problems“. Im Grunde bezeichnet der Begriff die menschliche Unfähigkeit, über die Vor- und Nachteile unserer modernen Lebenswelt korrekt buchzuführen. Je komplexer unsere Welt wird, desto mehr von diesen Problemen gibt es, und umso heftiger sehnen wir uns nach Einfachheit.

Während die Menschen in Entwicklungsländern von Maschinenbau und Softwareentwicklung träumen, träumen wir von Ackerbau und Viehzucht.

In meiner Heimat, dem bayerischen Odenwald, kenne ich einen Bauern, der hat aus dieser Not eine Tugend gemacht. Er bietet seit Kurzem sogenannte „Sensenmäh-Workshops“ für gestresste Großstädter an. Jedes Wochenende kommen nun Frankfurter Anwälte und Investmentbanker zu ihm, geben ein Heidengeld aus, nur, um per Hand die Wiese zu mähen. Und der Bauer? Sitzt daneben, zählt sein Geld und lacht sich tot – immerhin seine Buchführung funktioniert nämlich.

Vielleicht, denke ich gerade, ist die Stadt sogar der bessere Ort, um derartige Dienstleistungen anzubieten: Housecleaning-Workshops zum Beispiel, bestenfalls crowd-gesourced: Einmal die Woche kommen Führungskräfte und Topmanager in meine Wohnung, um zu putzen. Mit Eimer und Mob. Danach gibt’s noch Sitzkreis mit Feedback, und für die Fortgeschrittenen unter den Future-Detoxern biete ich dann noch einen Aufbaukurs an: Party-Cleaning. Zwei Mal im Jahr schmeiße ich große Partys, nur damit gestresste Sinnsucher die komplett verwüstete Wohnung danach wiederinstandsetzen können. Und wenn sie dann abends todmüde in ihr Bett fallen, hatten sie einen guten Tag. Sie schließen die Augen und schlafen zufrieden ein. Morgen ist ein neuer Tag.

Essentielle, aber einfache Probleme. Mein Uber-Fahrer Carlos würde das verstehen.

 


Nächste Schritte
Mehr zu den Themen „Glück“, „Work-Life-Balance“ und zu den kulturellen Unterschieden im Umgang damit gibt es ab September 2020 auch in Vince Eberts neuer Show „Make Science Great Again“ seien Sie dabei!

Etwas weniger lustig, dafür aber besonders informativ, geht es in der Bibliothek von getAbstract zu. Vince Ebert empfiehlt im Speziellen die Lektüre folgender Bücher (oder doch zumindest ihrer Zusammenfassungen): Hans Rosling u.a.: Factfulness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist / Bruno S. Frey und Claudia Frey Marti: Glück. Die Sicht der Ökonomie. / Robert H. Frank: Ohne Glück kein Erfolg. Der Zufall und der Mythos der Leistungsgesellschaft und Hanno Beck und Aloys Prinz: Glück. Was im Leben wirklich zählt.


Vince Ebert als Keynote-Speaker
Als Vortragsredner spricht unser Kolumnist auf Kongressen, Tagungen und Firmenfeiern in deutscher und englischer Sprache zu den Themen Erfolg, Innovation und Digitalisierung. Hier können Sie Vince Ebert als Keynote-Speaker für Ihren Event engagieren.

Wie das Journal Ihnen Zeit spart
Lesezeit
6 Min.
Die Lesezeit für diesen Artikel beträgt etwa 6 Minuten.
Recherchierte Abstracts
0 Für diesen Beitrag haben wir die praktischsten Einsichten aus einer Zusammenfassung zum Thema herausgesucht.
Share this Story
3. Dezember 2019 — Update: 16. Januar 2020