Übernehmen bald die Maschinen? Nicht, wenn wir uns auf unsere menschlichsten Fähigkeiten zurückbesinnen: Tomorrowmind macht Mut in unsicheren Zeiten.
Auf in eine schönere, humanere Arbeitswelt.
Heldinnen der Arbeit
Für ein Buch über Optimismus, Resilienz und das Überleben in der neuen „Wildwasser“-Arbeitswelt beginnt Tomorrowmind ziemlich düster: Laut einer McKinsey-Studie werden bis 2030 weltweit 800 Millionen Arbeitsplätze der Automatisierung zum Opfer fallen und vier Fünftel aller Arbeitnehmenden werden Lohneinbußen hinnehmen müssen.Mit potenziell schwerwiegenden Folgen: Menschen, die ihre Arbeit verlieren, haben ein um 35 Prozent erhöhtes Herzinfarktrisiko. Die Angst um den Arbeitsplatz führt auch verstärkt zu Depressionen, Angstzuständen und Drogenmissbrauch.
Wir brauchen nicht zu Opfern zu werden. Und wir dürfen es nicht.
Für Gabriella Rosen Kellerman und Martin Seligman ist dieses bedrohliche Szenario tatsächlich eine Chance für jeden Einzelnen, über sich hinauszuwachsen: In ihrem Buch erzählen sie die Geschichten von Menschen, die sich immer wieder neu erfunden haben, die Stromschnellen in der VUCA-Arbeitswelt kreativ umschifft haben und sich von nichts unterkriegen ließen. Die Autoren sind überzeugt: Was ihre Helden und Heldinnen der Arbeit geschafft haben, kann jeder schaffen. Mehr noch, mit den richtigen Methoden können Unternehmen ihre Mitarbeitenden sogar „für Heldentum und Bestleistungen am Arbeitsplatz trainieren“.
Aus der Steinzeit zurück in die Zukunft
Den Schlüssel zu mehr Resilienz, Optimismus und geistiger Beweglichkeit sehen sie ausgerechnet im Jäger-und-Sammler-Gehirn unserer Vorfahren. Bevor diese zu Knechten auf dem Feld und später am Fließband wurden, arbeiteten sie nur drei bis fünf Stunden am Tag, waren neugierig und gesellig, anpassungsfähig und kreativ. Kellerman und Seligman zufolge haben Landwirtschaft und Industrialisierung unsere Arbeit entmenschlicht. Automatisierung und KI bieten nun die Chance, sie auf ganz neue Art wieder zu vermenschlichen. Dazu müssen wir nicht zurück in die Steinzeit, sondern vorwärts in eine neue, lebenswertere Arbeitswelt.
Gelernte Optimisten
Zuversicht schöpfen die Autoren auch aus dem von Seligman mitbegründeten Forschungszweig der positiven Psychologie: Statt auf die Heilung von psychischen Krankheiten setzt sie zusammen mit der Sozialpsychologie und der Verhaltensökonomie auf Prävention. Ziel ist es, schwere psychische Schäden gar nicht erst entstehen zu lassen, sondern posttraumatisches Wachstum zu ermöglichen. Übertragen auf die Arbeitswelt heißt das: Wir müssen uns eine neue Denkweise aneignen, die uns hilft, Veränderungen vorwegzunehmen, die Zukunft zu planen, mit Rückschlägen umzugehen und unser kreatives Potenzial auszuschöpfen. PRISMA ist die englische Abkürzung für die fünf Kräfte, mit deren Hilfe wir die atemberaubende Geschwindigkeit des Wandels zu unserem Vorteil nutzen können: Prospektion, Resilienz, Innovation, soziale Verbundenheit und Sinnbewusstsein (engl. meaning and mattering).
Zusammengenommen bilden diese fünf Komponenten den ‚Tomorrowmind‘.
Seligman wurde vor allem mit dem Konzept der erlernten Hilflosigkeit berühmt. Es besagt, dass manche Menschen depressiv werden, wenn sie glauben, nichts an ihrer Situation ändern zu können und selbst schuld an ihrem Unglück zu sein. Ein auf PRISMA basierendes Coaching soll dem entgegenwirken – durch Übungen, die uns lehren, dankbar zu sein, die eigenen Leistungen zu feiern, achtsam zuzuhören sowie optimistischer und offener für Veränderungen zu sein. Das Fazit der Autoren: Wir können nicht nur die gefühlte Hilflosigkeit verlernen, sondern Selbstwirksamkeit, Mitgefühl, Optimismus und Kreativität gezielt erlernen.
Positives Denken ist gut fürs Business
Letztlich ist das erlernte positive Denken nicht nur gut für das seelische Wohlbefinden, sondern auch profitabel fürs Geschäft: Überdurchschnittlich resiliente Mitarbeitende erwirtschaften eine um 42 Prozent höhere Gesamtkapitalrendite und eine 3,7-mal höhere Eigenkapitalrendite. Zudem sind Teams mit resilienten Führungskräften um knapp ein Drittel produktiver als solche mit wenig belastbaren Vorgesetzten.
Unternehmen mit einer resilienteren Belegschaft verzeichnen im Jahresvergleich ein um 320 Prozent höheres Wachstum als Unternehmen mit niedrigerem Resilienzniveau.
Kritische Stimmen wenden ein, dass die positive Psychologie damit nur einen Vorwand liefere, um die Ressource Mensch nach kapitalistischer Logik noch effizienter verwerten zu können. Andere bemängeln, dass der Ansatz keine Antworten auf soziale Fragen biete und die Notwendigkeit struktureller gesellschaftlicher Veränderungen ausklammere: Wenn jeder seines eigenen Glückes Schmied ist – was passiert dann mit Menschen, die sich trotz aller Bemühungen immer wieder am glühenden Eisen verbrennen? Für manche kann die Freiheit grenzenloser Selbstverwirklichung zur Falle werden und autoritäre Tendenzen hervorbringen, wie Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey in Gekränkte Freiheit überzeugend darlegen.
Jeder Mensch ist kreativ
Auffällig ist, dass die Autoren den mit der Wildwasser-Metapher beschworenen Wandel ganz selbstverständlich als naturgegeben, schicksalhaft und unausweichlich darstellen. Sie seien Optimisten und hielten es „für ausgemacht“,dass Arbeit durch KI in Zukunft „mehr und nicht weniger sinnstiftend sein wird“.
Mit dem Erscheinen der KI wird zumindest abgeschafft, was nicht der Sinn für unser Dasein auf dieser Erde sein kann.
Das Evangelium der kreativen Menschwerdung verkünden sie mit einer amerikanischen Inbrunst, die – je nach Standpunkt – ansteckend oder befremdlich wirkt. Dass heute acht Milliarden Menschen nach ihrer Fasson und der PRISMA-Methode kreativ, erfolgreich und selig werden könnten, ist jedenfalls eine steile These, und den Beweis dafür bleiben die Autoren schuldig. Die Frage, ob wir das alle überhaupt wollen, stellen sie erst gar nicht.
Überhaupt wirkt ihr Blick auf den technischen Fortschritt manchmal blauäugig. So versuchen sie beispielsweise, das Konzept der Rückwärtsinnovation anhand von selbstfahrenden Autos zu erklären: Weil die Verbraucher angeblich noch nicht bereit seien, die Kontrolle über ihre Fahrzeuge abzugeben, würden Musk und Co. sie mit marktfähigen Zwischentechnologien wie dem Autopiloten so lange trainieren, bis sie schließlich die ultimative Lösung und damit das vollautonome Fahren akzeptierten. Letzteres ist seit mindestens zehn Jahren reine Zukunftsmusik und wird es nach Einschätzung vieler Experten auch noch lange bleiben. Insofern ist Elon Musks alljährliches Versprechen einer baldigen Einführung des fahrerlosen Betriebs keine kreative Rückwärtsinnovation, sondern ein Fall von krimineller Finanzmarktmanipulation.
Schwarzmalen ist für Loser
Trotz einiger blinder Flecken überzeugt das Buch vor allem, wenn es als Mutmacher gelesen wird: Die Autoren fordern Personalverantwortliche auf, die morschen Mauern zwischen Benefits und L&D einzureißen und sich gemeinsam für das Wohl ihrer Belegschaft einzusetzen. Und sie ermuntern Mitarbeitende, sich im Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten endlich in die wilden Fluten einer womöglich viel schöneren, neuen Arbeitswelt zu stürzen.