Verflixt komplex
Die Logik des Misslingens

Verflixt komplex

Absurde Verschwörungstheorien und narzisstische Fehlentscheidungen sind die Schattenseiten steigender Komplexität. Das erkannte der Psychologe Dietrich Dörner schon vor drei Jahrzehnten. Grund genug für eine Nachlese.

Kartoffelchips oder Erdnussflips?

Ein Blick auf den Couchtisch in den meisten Wohnzimmern genügt, um das Problem der steigenden Komplexität zu begreifen: Wie viele Fernbedienungen liegen dort nebeneinander aufgereiht? 3, 7 oder 15? Die Fähigkeit, eine oder mehrere davon überhaupt bedienen zu können, nimmt bekanntlich umgekehrt proportional zum Lebensalter ab. Kein Wunder, früher gab es einen Knopf und drei Programme – und dazu allenfalls noch die Qual der Wahl zwischen Kartoffelchips und Erdnussflips.

Zugegeben, das Beispiel ist banal. Meist endet ein solches Szenario mit ein paar Büscheln geraufter Haare und der Anschaffung einer Universalfernbedienung. Der Psychologe Dietrich Dörner bespricht in seinem Buch deutlich folgenschwerere Komplexitätsdilemmata. Um diese zu verdeutlichen, entwickelte er ein computerbasiertes Planspiel über die Moros, einen fiktiven halbnomadischen Stamm in Westafrika, der in bitterer Armut lebt. Zwölf Versuchspersonen sollten die Lebensumstände dieser Menschen verbessern. Doch die Probanden machten trotz guter Absichten alles oft noch schlimmer. Stürzte sich ein Spieler auf die Gesundheitsvorsorge, explodierte bald die Bevölkerungszahl und der karge Boden konnte die Menschen nicht mehr ernähren. Verlegte er sich aufs Brunnenbohren, ging das Wasser aus. Bekämpfte er die Tsetsefliege, vermehrten sich die Rinder, und die Flächen wurden überweidet. Immer wenn ein Spieler ein Problem löste, erzeugte er damit andere, weit größere. Das Fazit des Autors: Gute Absichten schützen nicht vor falschen Entscheidungen.

Kettenreaktionen und exponentielles Wachstum

Doch nicht alle Spieler scheiterten. Die erfolgreichen verstanden, dass sie es mit komplexen Systemen zu tun hatten. Änderten sie eine Variable, zog das andere mit sich. Komplexe Systeme haben eine Eigendynamik. Sie warten nicht, dass jemand etwas tut, sondern entwickeln sich von allein weiter – im schlimmsten Fall nicht linear, sondern exponentiell. Als die erste Buchausgabe 1989 erschien, waren die Tschernobyl-Katastrophe und der Ausbruch der Aids-Epidemie augenfällige Beispiele für unkontrollierbare Kettenreaktionen und explosiv verlaufende Krankheiten. Heute könnte man sie durch den Klimawandel und die Covid-19-Pandemie ersetzen und hätte ein hochaktuelles Werk zu den brennenden Herausforderungen unserer Zeit in den Händen. Denn Dörner macht nicht bei der Problemanalyse Halt, sondern bietet auch Lösungswege an. Er schlägt vor, zuallererst zu fragen: Welches Ziel möchte ich erreichen? Lässt es sich in Etappenziele aufteilen? Und welche Zielkonflikte gibt es? Allzu häufig schließen äußerst wünschenswerte Ziele einander nämlich aus – beispielsweise Kostenminimierung bei gleichzeitiger Nutzenmaximierung oder Freiheit und Gleichheit. Hier gilt es, das richtige Gleichgewicht zu finden.

 

Ob wir es wollen oder nicht: Wir müssen heute in globalen Zusammenhängen denken.Dietrich Dörner

Der Autor verrät einige Tricks zur Orientierung in einer immer komplexeren Welt. Einer besteht darin, sparsam mit Informationen umzugehen. Manche Feldherren, erzählt er, blendeten bestimmte Aspekte sogar bewusst aus, nach dem Motto: Wer viel weiß, wagt nichts mehr. Er schlägt vor, sich auf die Zusammenhänge zu konzentrieren. Wir können uns ein Modell der Wirklichkeit zimmern, es in seine Bestandteile zerlegen und die Elemente im Zeitverlauf beobachten. Den Moro-Spielern etwa hätte auffallen müssen, dass das Wasser im Brunnen immer weniger wurde – doch die meisten ignorierten es. Ein anderer Trick sind Analogieschlüsse: Lässt sich womöglich von einem Lebensbereich, in dem man sich gut auskennt, auf das aktuelle Problem schließen? In vielen Fällen, so Dörner, sind falsche Annahmen besser als gar keine.

Fragen stellen, rückwärts gehen, Entscheidungen revidieren

Das Ziel im Moro-Spiel war klar: Die Menschen sollten aus bitterer Armut befreit werden. Doch während die Fehlentscheider wie bei der Stierhatz in Pamplona nur eine Richtung kannten und sich am Ende heillos verrannten, hörten die erfolgreichen Spieler nie auf, Fragen zu stellen. Sie änderten ihre Überzeugungen, wenn etwa der sinkende Wasserstand in den Brunnen sie eines Besseren belehrte. Und sie waren in der Lage, rückwärts zu planen, also vom Ziel aus jene Schritte zurückzugehen, die nötig sind, es zu erreichen. Sie konnten ihre Entscheidungen revidieren, Umwege gehen, differenzieren und vorgefertigte Meinungen zurücknehmen.

 

Meines Erachtens ist die Frage offen, ob ,gute Absichten + Dummheitʻ oder ,schlechte Absichten + Intelligenzʻ mehr Unheil in die Welt gebracht haben.Dietrich Dörner

Ist doch eigentlich selbstverständlich – sollte man meinen. Ist es nicht, entgegnet Dörner: „Menschen lernen sehr ungern aus Fehlern, vor allem aus eigenen. Sich einzugestehen, daneben gelegen zu haben, beeinträchtigt das Selbstwertgefühl“, sagte er in einem GEO-Interview im Jahr 2010. „Im Normalfall kämpfen Fehlentscheider erbittert um ihre Kompetenzillusion und bemühen Verschwörungstheorien, selbst wenn sich ihre Handlungen als eindeutig falsch erwiesen haben. Manager feuern dann auch gern einen Sündenbock, weil es die eigene Handlungsfähigkeit demonstriert – vor allem für sie selbst.“

Die Logik des Gelingens

Das klingt am Ende des Jahres 2020 geradezu prophetisch. Doch man musste kein Wahrsager sein, um schon in den 1980er-Jahren zu erkennen, dass die zunehmende Komplexität Gesellschaften vor enorme Herausforderungen stellen würde. Komplexe Systeme können uns überfordern und erschöpfen. Sobald wir den Überblick verlieren, bekommen wir es mit der Angst zu tun. Jeder, der sich einmal im Wald verlaufen hat – oder versucht hat, 15 Fernbedienungen auseinanderzuhalten –, weiß, wie sich das anfühlt.

 

Auf jeden Fall sollte man sich über unerwartete Folgen Gedanken machen.Dietrich Dörner

Die FAZ schrieb über das Buch: „Originelle Wissenschaft kann sich durch Verschiedenes auszeichnen: durch ungewöhnliche Fragestellungen, Methoden, Konzepte oder Begriffsbildungen. Im glücklichsten Fall durch dies alles zusammen. Mit der Logik des Misslingens liegt ein solcher Glücksfall vor.“ In der Tat zeigt Dörner in seinem Buch Wege auf, den Wald trotz der vielen Bäume zu sehen – und wieder herauszufinden, ohne eine Spur der Verwüstung zu hinterlassen. Seine Devise ist titelgebend: Jedem Scheitern wohnt eine Logik inne. Umgekehrt gilt jedoch: Jedem Gelingen auch.

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