Warum Erlerntes flüchtig ist und Verstandenes bleibt
Das neue Lernen heißt Verstehen

Warum Erlerntes flüchtig ist und Verstandenes bleibt

Um innovativ zu sein, reicht Lernen nicht aus, sagt Hirnforscher Henning Beck in Das neue Lernen heißt Verstehen. Erst wer Konzepte verstanden hat, kann ihre Grenzen sehen und sie mit anderen Konzepten und neuen Ideen zu Innovationen verknüpfen.

Wer Lösungen finden will, muss nicht lernen, sondern verstehen.

Wenn Forscher ein Gehirn aufschneiden, finden sie darin weder Gedanken noch Wissen noch Erinnerungen. Sie sind physisch nicht vorhanden, und doch gibt es sie. Sie ergeben sich aus dem Zusammenspiel der Nervenzellen. So beginnt Henning Beck sein Buch und kommt dann – stets leicht verständlich und oft amüsant – zum weiten Thema Lernen und Verstehen.

 

Wer etwas gelernt hat, kann es auch verlernen. Wenn man aber etwas einmal verstanden hat, kann man es nicht ‚ent-verstehen‘.Henning Beck

 

Nicht auf das Lernen, sondern auf das Verstehen kommt es an, betont Beck. Verstehen ist die Voraussetzung für Innovationen. Beck bringt dazu ein schlagendes Beispiel: Im Studiengang Unternehmensgründung der Stanford-Universität wurden vor einigen Jahren die Studenten in mehrere Gruppen eingeteilt. Sie sollten mit 5 Dollar und 2 Stunden Zeit einen maximalen Gewinn erzielen und ihre Lösung vier Tage später vor der Klasse präsentieren. Eine Gruppe erkannte allerdings, dass sie nicht nur die beiden Parameter Geld und Zeit zur Verfügung hatten, sondern als dritte Ressource ihre Präsentation. Firmen reißen sich immerhin um eine Möglichkeit, Absolventen der Eliteuniversitäten anzusprechen. Und so ignorierte das Team die 5 Dollar und die 2 Stunden und verkaufte sein Präsentationszeitfenster für 650 Dollar an ein Unternehmen.

Das Beispiel illustriert: Die Gewinner haben verstanden, worum es geht. Sie haben ihre Aufgabe bzw. das Problem eingeordnet und klassifiziert. Sie haben die verschiedenen Ressourcen erkannt und gegeneinander abgewogen. Und sie haben sich über gewohnte Denkmuster hinweggesetzt. All das gehört zum Verstehen und war die Grundlage für ihren Erfolg. Auch wenn sie nie wieder vor genau diese Aufgabe gestellt werden, haben sie sich ein Denkschema erarbeitet, das ihnen in vergleichbaren Situationen weiterhelfen wird. Gelerntes kann man vergessen. Verstandenes bleibt verfügbar. Darum, so Beck, sollten wir verstehen und nicht einfach nur lernen. 

Vergessen ist eine Voraussetzung fürs Lernen.

Als Neurobiologe erwähnt Henning Beck natürlich immer wieder, welche Hirnregionen bei bestimmten Vorgängen betroffen sind und wie sie zusammenarbeiten. Aber darum geht es ihm nicht – das sind nur die wissenschaftlichen Grundlagen. Dass er den Leser damit nicht unnötig belasten will, unterstreicht er unter anderem dadurch, dass keine einzige Abbildung zum Aufbau des menschlichen Gehirns im Buch zu finden ist. Organische Details erwähnt er fast immer nur der Vollständigkeit halber. Wichtig sind ihm hingegen die zentralen Themen Denken, Lernen, Wissen und Verstehen.

Lernen wird bekanntlich durch Vergessen erschwert. Doch Beck betont, dass Vergessen auch nützlich, ja sogar nötig für gutes Lernen ist, weil es das Gehirn immer wieder von unnützem Ballast befreit. Das Gedächtnis dient schließlich nicht dem Anhäufen von Informationen, sondern dem Treffen guter Entscheidungen für die Zukunft – und dazu braucht es anwendbares Wissen, keine Datensammlung.

Lernen können auch Computer – verstehen können sie nicht.

Wozu soll man heutzutage überhaupt etwas lernen, wenn man doch alles in Sekunden googeln kann? Haben Computer uns mit ihrer künstlichen Intelligenz nicht ohnehin bereits überholt, da Menschen etwa beim Schach oder Poker keine Chance mehr gegen sie haben und Rechner selbst in Quizshows inzwischen weit schneller sind? Die Fragen sind natürlich rhetorisch gestellt. Beck zitiert den Computerpionier Konrad Zuse: „Die Gefahr, dass der Computer so wird wie der Mensch, ist nicht so groß wie die Gefahr, dass der Mensch so wird wie der Computer.“

Menschen müssen lernen und Informationen oder Wissen anhäufen, und sei es nur für Prüfungen. Wer sich näher damit beschäftigt und sein Lernen zu optimieren versucht, stößt schnell auf verschiedene Lerntechniken, beispielsweise die Wiederholungsmethode, das Erstellen von Zusammenfassungen und Schaubildern oder auch Selbsttests. Manche Techniken sind effektiver als andere – Beck stellt sie einzeln vor. Doch etwas zu lernen bedeutet noch nicht, es zu verstehen. Und verstehen ist genau das, was Menschen den Rechnern voraushaben.

 

Lernen ist ja schön und gut, aber es ist überhaupt nichts Besonderes. Alle möglichen Lebewesen tun es: Hühnchen lernen, Tiger lernen, Pottwale lernen, sogar Computer lernen – nur wir Menschen, wir können verstehen.Henning Beck

 

Computer brauchen riesige Datensätze, um Muster zu erkennen, sogenanntes Big Data. Menschen begreifen sofort, was ein „Selfie“ ist. Sie müssen nicht erst 10 000 Häuser erwerben, um zu wissen, wie man ein Haus kauft. Ihnen reicht „Small Data“. Sogar bei der fürs Leben doch so wichtigen Partnersuche reichen verhältnismäßig wenige Anläufe, um das passende Gegenstück zu finden. Offensichtlich können Menschen bereits anhand sehr weniger Beispiele Annahmen bzw. ein Denkmodell erstellen, das ihnen hilft, Sachverhalte und Verbindungen nachzuvollziehen, und das auch in unbekannten Situationen anwendbar ist. Beck bezeichnet dies als den „Dreiklang unseres Verstehens“: ein Denkmodell erstellen, nachvollziehen, anwenden. 

Verstehen bezieht sich aber nicht nur auf Objekte, von denen wir verstehen, was sie sind, betont Beck. Es bezieht sich auch auf abstrakte Ideen, etwa das Konzept von Gerechtigkeit. Das eigentliche Verstehen geschieht dabei in drei Schritten: Als Erstes ordnen wir das Wahrgenommene ein. Oft erkennen wir auf einen Blick die wesentlichen Merkmale eines Objekts durch das sogenannte One-Shot-Learning. Zugleich können wir das Objekt von anderen abgrenzen – wir wissen nicht nur, was es ist, sondern im selben Moment auch, was es nicht ist. Als Nächstes müssen wir den Zweck und die Funktionsweise des Objekts verstehen, das Ursache-Wirkungs-Prinzip. Schließlich entwickeln wir aus den gesammelten Informationen ein Denkschema des Objekts. Damit ist es uns möglich, auch künftig Objekte dieser Art zu identifizieren – oder auch weiterzuentwickeln.

 

Jede dieser drei Zutaten des Verstehens (…) ist für sich genommen schon beeindruckend genug. Doch in Summe ermöglichen sie etwas ganz Besonderes: dass man nämlich eine neue Verständniskategorie schafft.Henning Beck

 

Denkschemas in ungewohnter Weise zu kombinieren oder alte Denkmuster gleich komplett hinter sich zu lassen – das ist Kreativität. Gute Ideen und innovative Ansätze brauchen Kreativität. Wer kreativ sein will, muss Dinge bewusst hinterfragen und sich ggf. auch über Regeln und Beschränkungen hinwegsetzen. Das erfordert ein gewisses Maß an Unzufriedenheit mit den aktuellen Gegebenheiten – wer zufrieden ist, muss nichts verändern. Prägnant spinnt Beck diesen Gedanken weiter: Unzufriedenheit ist eine Form der Unklarheit – und Unklarheit bewirkt wiederum, dass man sich aktiv mit einer Sache beschäftigt, um Klarheit zu schaffen. Man begibt sich auf die Suche. Sie führt also zu Kreativität – und zum Verstehen.

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