Plädoyer für eine realistische Einschätzung der Welt
Factfulness

Plädoyer für eine realistische Einschätzung der Welt

Wir werden die Welt nie sehen, wie sie wirklich ist. Aber wir können lernen, allzu eklatante Wahrnehmungsfehler zu vermeiden, um bessere Analysen zu erstellen und geeignetere Maßnahmen zu ergreifen. Das Buch von Hans Rosling zeigt uns den Weg.

Menschen sind unglaublich begabt darin, die Welt falsch einzuschätzen

Hans Rosling diagnostiziert eine erschütternde Unkenntnis über die tatsächlichen Verhältnisse auf der Welt. Um diesem Unwissen etwas entgegenzusetzen, gründete er 2005 die Gapminder Foundation, die sich seither mit Datenanalysen beschäftigt. Roslings Sohn Ola und seiner Schwiegertochter Anna führen sein Werk weiter, seit er 2017 an Bauchspeicheldrüsenkrebs starb. Das von den Autoren erdachte Wort „Factfulness“ dürfte wohl in keinem Wörterbuch zu finden sein, ist aber ungefähr mit „Faktenreichtum“ zu übersetzen.

 

Factfulness kann und sollte, ebenso wie gesunde Ernährung und regelmäßige sportliche Betätigung, Teil Ihres alltäglichen Lebens werden.

Hans Rosling et al.

„Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast“, lautet ein geflügeltes Wort. Nach Hans Rosling braucht man gar keine Statistik zu fälschen – die Leute verstehen sie sowieso nicht. Rosling war in vielen Entwicklungsländern als Mediziner tätig. Er war an der Gründung der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ beteiligt. Außerdem war er Professor am renommierten Karolinska Institut in Stockholm und trat international als Vortragsreisender auf, etwa beim World Economic Forum in Davos. Eigenen Worten zufolge liebte Rosling den Zirkus und hatte einen ausgeprägten Hang zur Selbstdarstellung, den er gerne im schillernden Anzug als Schwertschlucker unter Beweis stellte. Im Buch schiebt er sich ebenfalls stark in den Vordergrund, aber er kokettiert damit und präsentiert zudem eigene Fehleinschätzungen ausdrücklich als unrühmliche Beispiele, was ihn sympathisch macht.

Den Einstieg ins Buch bilden 13 Fragen mit je drei Antwortmöglichkeiten, mit denen der Leser sein Wissen testen kann. Dieselben Fragen stellte Rosling in einem umfangreichen Experiment 12 000 Menschen in diversen Industrieländern. Die Fragen drehen sich um weltweite Entwicklungen wie die Verteilung der Weltbevölkerung, Armut, Lebenserwartung, gefährdete Tierarten und den Klimawandel. Hätte man die Fragen Schimpansen vorgelegt, dann wären die Antworten nach dem Zufallsprinzip erfolgt und etwa ein Drittel hätte korrekt sein müssen. Dieser Erwartungswert wurde zu Roslings Verwunderung von den menschlichen Teilnehmern nur selten übertroffen. Meistens schnitten sie schlechter, manchmal sogar verheerend ab. So lautet die erste Frage: „Wie viele Mädchen absolvieren heute die Grundschule in den Ländern mit niedrigen Einkommen?“ Als Antworten stehen zur Auswahl: 20/40/60 Prozent. Richtig sind 60 Prozent. Hier lagen schwedische Teilnehmer vorn – mit lediglich 11 Prozent richtigen Antworten.

Instinkte leiten uns in die Irre

Die Autoren machen zehn Instinkte als Ursachen unserer Fehleinschätzung der Welt aus. Der „Instinkt der Kluft“ bewirkt, dass wir eine Kluft beispielsweise zwischen Arm und Reich sehen. Die Autoren widerlegen dies mit Gegenbeweisen. Aufgrund des „Instinkts der Negativität“ schenken wir negativen Informationen mehr Beachtung als positiven. Der „Instinkt der geraden Linie“ lässt uns Entwicklungen wie das Wachstum der Weltbevölkerung gerne linear fortschreiben, auch wenn in Wirklichkeit eine abflachende Kurve vorliegt. Der „Instinkt der Angst“ hält uns davon ab, Risiken von bedrohlichen Ereignissen wie Naturkatastrophen oder Kriegen korrekt einzuschätzen. Dank dem „Instinkt der Dimension“ erscheint es uns beispielsweise als ganz fürchterlich, dass 2016 weltweit 4,2 Millionen Babys starben, die meisten von ihnen an vermeidbaren Krankheiten. Doch 1950 waren es noch 14,4 Millionen – bei einer deutlich kleineren Weltbevölkerung.

 

Fast alle Kinder auf der Welt sind heute geimpft. Das ist faszinierend. Aber die meisten Menschen wissen das nicht.

Hans Rosling et al.

Der „Instinkt der Verallgemeinerung“ bezeichnet Stereotype, die unsere Weltsicht verzerren. Länderbezogene Klischees versperren die Sicht auf Details ebenso wie der Umstand, dass wir uns selbst gern als „Normalfall“ zum Maßstab nehmen. Der „Instinkt des Schicksals“ lässt uns Merkmale anderer Länder als unveränderlich ansehen, worauf wir den dort stattfindenden Wandel nicht erkennen. Der „Instinkt der einzigen Perspektive“ bringt Fachleute dazu, in ihrem Spezialgebiet vor dramatischen Entwicklungen warnen, während sie hier bereits erzielte Fortschritte ignorieren. Der „Instinkt der Schuldzuweisung“ fokussiert oft auf die unmittelbar „Schuldigen“ und fragt nicht nach den tieferen Ursachen scheinbaren Fehlverhaltens. Der „Instinkt der Dringlichkeit“ schließlich führt zu überstürzten, wenig durchdachten Aktivitäten, die unter Umständen mehr Schaden anrichten als Nutzen stiften.

Wer seine Schwächen kennt, kann etwas dagegen unternehmen

Nun kann man einzelne Details im Buch durchaus kritisieren. Die Fragen, die die Autoren ihren Lesern vorlegen, sind teilweise sehr speziell, etwa Frage 9: „Wie viele der einjährigen Kinder auf der Welt sind gegen irgendwelche Krankheiten geimpft?“. Sorry … keine Ahnung! Auch könnte man die Autoren mit ihren eigenen Waffen angreifen. Mit anderen Statistiken, einer leicht abgewandelten Fragestellung und bezogen auf eine andere Grundgesamtheit ließe sich zeigen, dass es sehr wohl eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich oder zwischen Spitzenverdienern und dem Rest der Bevölkerung gibt. Aber darum geht es eigentlich nicht. Entscheidend ist vielmehr, dass Leser, die mündige Bürger sein wollen, auf eigene Defizite aufmerksam gemacht werden.

 

In den vergangenen 20 Jahren hat sich der Anteil der in extremer Armut lebenden Weltbevölkerung mehr als halbiert. Das ist absolut revolutionär.

Hans Rosling et al.

Die behandelten zehn Instinkte bewirken eine verfälschte Wahrnehmung der Welt. Sie lassen uns falsche Schlüsse ziehen, voreilige Prognosen erstellen und ungeeignete Maßnahmen ergreifen. Daher sollten wir sie kennen und um ihre Gefahren wissen. Tatsächlich gelingt es den Autoren, uns auf kurzweilige Art mit ihnen zu konfrontieren. So können wir in Zukunft (hoffentlich) differenzierter mit Zahlen und Fakten umgehen und die Welt so sehen, wie wir glauben, dass sie wirklich ist.

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