Geigers Sicht auf Alzheimer – Kraft und Trost für Angehörige
Der alte König in seinem Exil

Geigers Sicht auf Alzheimer – Kraft und Trost für Angehörige

Jahrelang hat der Autor Arno Geiger seinen Vater in fortschreitender Demenz betreut und erlebt. Dabei lernte er einiges. Durch die Augen von Geiger gesehen verliert Alzheimer etwas von seinem Schrecken.

Andere Maßstäbe

„I hope I die before I get old“ lautet die wohl bekannteste Zeile in dem 1965 veröffentlichten Song My Generation der Rockband The Who. Auch wenn Gitarrist Pete Townshend später äußerte, mit „alt“ tatsächlich „sehr reich“ gemeint zu haben, prägte der Song und insbesondere diese herausgelöste Zeile das Selbstverständnis vieler junger Menschen. Sie machten sich über ihre Zukunft keine Gedanken und ein Mensch über 30 kam ihnen schon sehr alt vor.

Eines Tages freilich wurden sie selbst 30. Wären sie jetzt lieber gestorben? Wohl kaum. Alt sind immer nur die Älteren. Townshend, geboren 1945, ist inzwischen 75. Aber wann ist man alt? Und wann ist man so alt, dass man lieber nicht mehr leben möchte? Wenn man dement wird, vielleicht?

Derartige Gedanken mögen dem Leser von Der alte König in seinem Exil in den Sinn schießen. Der österreichische Autor Arno Geiger, Jahrgang 1968, zieht eigene und bemerkenswerte Schlüsse. Sein Vater August, Jahrgang 1926, erkrankte um 1995 an Alzheimer. Dass dies bei allem Kummer aber keineswegs nur eine Leidensgeschichte sein muss, mag manch einen Betroffenen trösten und ihm neue Perspektiven eröffnen. Der Autor hat seinen Vater während der Erkrankung intensiv begleitet und ihn dabei neu kennen und auf besondere Weise lieben gelernt, wie er einfühlsam schildert. Geiger hat in dieser Zeit „gelernt, dass man für das Leben eines an Demenz erkrankten Menschen neue Maßstäbe braucht“. 

Verlust der Geborgenheit

Geiger erzählt, wie sich beim Vater allmählich Auffälligkeiten einschlichen. Sein Tatendrang wich einer Apathie, für die Geiger und seine Geschwister zunächst andere durchaus plausible Erklärungen fanden. Da sie ihn grundsätzlich für gesund und Nachlässigkeiten wie Socken im Kühlschrank für absichtsvolle Schikanen hielten, rieben sie sich im vergeblichen Kampf mit dem Vater unnötig auf. „Wir dachten, seine Defizite kämen vom Nichtstun. Dabei war es umgekehrt, das Nichtstun kam von den Defiziten.“ Die Einsicht, dass Alzheimer die Ursache für das Verhalten war, dämmerte den Angehörigen nach etwa drei Jahren. Sie sorgte erst einmal für Erleichterung, denn nun gab es eine Erklärung für all das Chaos.

Ich begreife jetzt, dass es einen Unterschied macht, ob man aufgibt, weil man nicht mehr will, oder weil man weiß, dass man geschlagen ist.Arno Geiger

Geiger verzichtet darauf, allgemein zugängliche, medizinische Informationen in seine Schilderungen einzuflechten. Stattdessen berichtet er betont subjektiv vom individuellen Verlauf der Krankheit, von den einzelnen Episoden dieser Entwicklung sowie von persönlichen Gedanken und Erkenntnissen. Mit Wissenschaft will das nichts zu tun haben, sondern mit Menschen und Gefühlen.

Gewiss war es bitter und unbegreiflich für nahe Angehörige wie Geschwister, Partnerin und Kinder, dass August sie nicht mehr erkannte. Ebenso erschütternd war, dass der Erkrankte immer „nach Hause“ wollte, obwohl er doch zu Hause war. Sein eigenes Heim, das er selbst erbaut hatte und in dem er seit Jahrzehnten lebte, schien ihm fremd. Alles Vertraute war verloren. Als das rätselhafte Zuhause, von dem August dennoch immer sprach und wo er ständig hinwollte und Trost zu finden hoffte, vermutet Geiger einen Ort, auf den menschliches Sehnen seit Urzeiten gerichtet ist – das Himmelreich.

Alzheimer als Spiegel der Gesellschaft

Der Autor sieht Parallelen zwischen Alzheimer und unserer Gesellschaft. Früher boten Dinge wie Familie, Religion und Geschlechterrollen den Menschen Ordnung und Orientierung. Heute sorgen eine unüberschaubare Fülle an Wissen sowie permanente Neuerungen für Orientierungslosigkeit und Zukunftsängste.

Die objektive Wahrheit kam oft unter die Räder, es kümmerte mich nicht, denn sie war wertlos.Arno Geiger

Als ihm dies bewusst wurde, spürte Arno eine zunehmende Solidarität mit August, wie er erzählt. Irgendwie saßen sie im selben Boot. Und als er schließlich aufgab, vom Vater einen gesunden Menschenverstand zu erwarten, fühlte sich diese Resignation wie ein Sieg an. Befreit von rationalen Erwartungen war er nun in der Lage, ein tieferes Verständnis für August zu entwickeln, und die beiden kamen sich immer näher. Gemeinsame Tage mit dem Vater riefen nicht mehr allein Erschöpfung hervor, sondern sorgten zunehmend für Inspiration. August wurde für Arno wieder zu einer Persönlichkeit. Er konnte sich erstaunlich präzise und originell ausdrücken – bisweilen beneidete der Autor ihn sogar für seine Einfälle.

Es gibt auch Positives

Natürlich schritt die Krankheit voran. Wahnvorstellungen, Halluzinationen und surreale Momente nahmen zu. Rund-um-die-Uhr-Betreuung wurde nötig und der Zustand des Vaters hing stark davon ab, wer sich gerade um ihn kümmerte. Manche Betreuerinnen nahmen sofort Reißaus. Aber eine von ihnen kam mit August sehr gut klar – und er mit ihr. Ihre spezielle Art, mit ihm umzugehen, funktionierte einfach. Sie blieb fast drei Jahre. Dann, so Geiger, sei die Betreuung zu Hause nach über zehn Jahren nicht mehr möglich gewesen und August musste in ein Heim umziehen. Das professionelle Umfeld tat ihm allerdings gut und für die Familie trat nach langer, harter Belastung etwas Entspannung ein. Geiger verbrachte jedoch weiterhin viel Zeit mit seinem Vater und bemerkte etwas erstaunt, dass dieser ihn dazu brachte, der Welt gegenüber offener zu werden. Eigentlich heißt es, dass Alzheimer Verbindungen kappt – hier aber wurde eine Verbindung neu geknüpft, wie Geiger feststellt. Und wenn der Vater ihn dann mit klaren Augen anlächelte, wusste er, dass sein Besuch sich einmal mehr gelohnt hatte.

Oft ist es, als wisse er nichts und verstehe alles.Arno Geiger

Somit kann Geiger der Alzheimererkrankung tatsächlich Gutes abgewinnen. Sie führe den Jüngeren das Wesen von Alter und Krankheit vor Augen. Und wenn über Sterbehilfe nachgedacht werde, gehe es vielleicht eher darum, etwas gegen die eigene Hilflosigkeit zu tun, als den Kranken zu erlösen. Trotz dessen Erkrankung erlebte der Autor weiterhin viele innige Momente mit seinem Vater. Sein Buch ist ein sensibles Plädoyer, das Leben in jeder Phase anzunehmen.

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