China-Einsichten im TikTok-Stil
China to go

China-Einsichten im TikTok-Stil

Bestsellerautor Frank Sieren hat ein weiteres Buch über China geschrieben – mit kurzen, bunten Einblicken im TikTok-Stil. Eine kurzweilige Lektüre, für manchen aber sicher gelegentlich zu unkritisch.

China zu verstehen ist nicht leicht. Machtmonopol der kommunistischen Partei, Unterdrückung der Uiguren, Klimasünder ersten Grades – das ist es, was den meisten hier wohl einfällt. Gleichzeitig fasziniert China mit seinem erfolgreichen Sprung in die Moderne. Frank Sieren, einer der führenden deutschen Chinaexperten und seit 1994 im Land, liefert bunte Einblicke in die Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur Chinas – in knappen, kurzweiligen Geschichten, augenscheinlich gerichtet an die TikTok-Generation.

Hintergrund ist seine feste Überzeugung: Wir müssen Chinas Blick auf sich selbst und auf die Welt kennen und verstehen. Denn China ist eine Weltmacht geworden. Das Land lässt sich die Spielregeln nicht einfach vorschreiben. Zudem braucht der Westen China, um die großen Herausforderungen der Welt zu lösen, den Klimawandel, geopolitische Konflikte und Kriege, die immer noch bestehende Armut in vielen Teilen der Welt, aber auch Probleme, die neue Technologien wie künstliche Intelligenz mit sich bringen. 

Die BRICS haben die G7 bereits überholt 

China steht in der Welt nicht allein da – das macht der Journalist, Buchautor und Dokumentarfilmer deutlich. Denn China gehört zu einer Bewegung aufsteigender Länder von verschiedenen Kontinenten, den BRICS-Staaten, also außerdem noch Brasilien, Russland, Indien und Südafrika. Diese unterscheiden sich zwar stark voneinander, es gelingt aber immer häufiger der Schulterschluss. Wie Sieren erläutert, haben die BRICS von der Einwohnerzahl und ihrer Wirtschaftskraft die G7, also die sieben führenden Industriestaaten, schon überholt: Sie stellen 40 Prozent der Weltbevölkerung und über 30 Prozent des kaufkraftbereinigten weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP), die G7 hingegen nur 11 Prozent der Weltbevölkerung und 30 Prozent des BIP.

China, Indien, Brasilien, Südafrika ziehen mehr denn je an einem Strang. Sie wollen nicht mehr nur, dass ihre Sicht der Welt wahrgenommen wird. Sie kämpfen um mehr Mitbestimmung in globalen Fragen.Frank Sieren

Ein Beispiel: der Ukrainekrieg. Die übrigen BRICS-Staaten kritisierten Russland zwar, stellten sich aber auch nicht an die Seite des Westens. An den Sanktionen gegen Moskau beteiligten sich beispielsweise nur 170 der 193 Länder der Vereinten Nationen. 

Ist Chinas Neue Seidenstraße eine Schuldenfalle für andere Länder?

Ein rotes Tuch ist im Westen das Seidenstraßenprojekt der Chinesen. Peking locke schwache Länder in die Schuldenfalle, heißt es. So habe China Sri Lanka überteuerte Kredite für den Bau des Tiefseehafens Hambantota gegeben, mit dem Ziel, dort – an einer militärisch wichtigen Stelle – einen Außenposten aufzubauen. 

Die Saga vom bösen Kredithai China, der in Sri Lanka sein Unwesen treibt, hat einen kleinen Fehler. Frank Sieren

Sieren malt ein ganz anderes Bild: Er verweist auf Untersuchungen des Teams um Deborah Bräutigam von der Johns Hopkins University. Die zeigen, dass nicht China Sri Lanka in die Überschuldung getrieben hat. Vielmehr seien Überschuldung, Wirtschaftskrise und hohe Inflation Folgen von 30 Jahren Bürgerkrieg, einer miserablen Innenpolitik, dem Tsunami 2004, dem verheerenden Terroranschlag 2019 mit über 200 Toten und der Coronapandemie.

Bei der Energiewende ist China weiter als gedacht 

Auch unsere Überzeugung, dass China der Klimasünder Nummer eins der Welt ist, nimmt Sieren auseinander. China setze vielmehr voll auf den Umbau der Wirtschaft in Richtung Klimaneutralität. So statte der Staat seine eigenen Immobilien mit Solarpaneelen aus und unterstütze auch private Immobilienbesitzer dabei. Das Land produziere außerdem 30 Prozent des weltweiten Wasserstoffs. Noch komme der Großteil davon aus konventionellen Energien, Ziel sei aber die Umstellung auf erneuerbare. Damit fahre China einfach eine andere Strategie als Deutschland, das allein auf grünen Wasserstoff setze, so Sieren. Ebenfalls kaum bekannt im Westen: China sei auch bei „grüner“ Architektur ganz vorn. So gelte etwa der Shanghai Tower, das zweithöchste Gebäude der Welt, als eines der nachhaltigsten Hochhäuser überhaupt. 

Journalisten in Gefängnissen? Im Westen dramatisiert

Pressefreiheit und China – das passt aus unserer Sicht nicht zusammen. Frank Sieren räumt zwar ein, dass in China so viele Journalisten im Gefängnis sitzen wie in keinem anderen Land der Welt, nämlich 114. Allerdings beurteile Deutschland Fälle von Journalisten in Gefängnissen sehr unterschiedlich. China stehe am Pranger, andere Länder hingegen nicht. Seine Argumentation: Die Zahl inhaftierter Journalisten ist in China auf die 1,4 Milliarden Einwohner gerechnet gar nicht so hoch. Viel höher ist sie etwa in der Türkei (32 inhaftierte Journalisten auf 84 Millionen Einwohner), Ägypten (20 auf 109 Millionen) und erst recht in Saudi-Arabien (24 auf 30 Millionen).

Auch in China gibt es LGBTQ 

Ein spannendes Thema ist LGBTQ in China. Im Westen ist man ja überzeugt: Menschen, die anders leben, haben in China nichts zu melden. Sieren zeigt aber, dass Queere durchaus sichtbar sind im Land. Dort gebe es auch Pendants zu LGBTQ-Hochburgen wie San Francisco oder Brighton. Konkret nennt er Chengdu, die 16-Millionen-Metropole in Zentralchina. Dort gehörten Händchen haltende Schwule oder Lesben ganz normal zum Straßenbild dazu.

Im Westen sollen Minderheiten die Chance auf eine größtmögliche Sichtbarkeit haben, in China soll sich die Mehrheit nicht provoziert fühlen.Frank Sieren

Sieren erklärt auch die Sicht der KP auf LGBTQ: Sie wolle lediglich nicht, dass sich Menschen, queer oder nicht queer, zusammenschließen und politisch aktiv werden. Im Übrigen könnten viele queere Chinesen mit der Ausrichtung der westlichen Regenbogen-Community nichts anfangen. „Die meisten queeren Chinesen wollen Liebe und Akzeptanz, aber keine Pride-Paraden“, zitiert er Cyril Ip, den homosexuellen Hongkonger Kolumnist der South China Morning Post

Sieren, der schon mehrere Bestseller über China geschrieben hat, liefert in China to go hoch spannende Einblicke in das Land. Vieles ist überraschend, manches verstörend, manches löst auch Bewunderung aus. Der TikTok-Ansatz bringt es mit sich, dass die Tiefe seiner anderen Bücher hier fehlt. So mancher dürfte sich aber gelegentlich an Sierens KP-Linietreue stoßen: Inhaftierte Journalisten oder Menschenrechtsverstöße – alles nicht so schlimm. Das dürfte so manchen skeptisch werden lassen in Zeiten, in denen Länder wie China oder Russland auch im Westen auf immer subtilere Weise ihre Sicht der Welt verbreiten wollen.

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