Die Neue Seidenstraße ist ein Mammutprojekt, das China enger mit Asien, Afrika und Europa verbinden soll. Aber sind die chinesischen Investitionen in die Infrastruktur anderer Länder wirklich so selbstlos und dienen nur dem gemeinsamen Wirtschaftswachstum? Oder steckt dahinter der Plan, die halbe Welt in eine Abhängigkeit von China zu treiben?
Umfassende Analyse eines umstrittenen Großprojekts
Im Rahmen der Neuen Seidenstraße finanziert und baut die Volksrepublik China seit 2013 Häfen, Pipelines, Eisenbahnlinien, Unterseekabel und zahllose andere Infrastrukturprojekte in Asien, Afrika und Europa. Ein globales Projekt also, das wirtschaftlich und politisch motiviert ist und zahlreiche Länder, Gesellschaften, Ökosysteme und sogar das globale Finanzsystem beeinflusst. Da gibt es einiges zu analysieren und zu berichten – und so wird es auf den beinahe 300 Seiten in Philipp Mattheisʼ Buch Die dreckige Seidenstraße auch nie langweilig.
Als langjähriger Auslandskorrespondent für verschiedene Medien wie Stern, Wirtschaftswoche oder Capital lebte Mattheis unter anderem in Schanghai und Istanbul. Außerdem ist er für die Recherche zu seinem Buch weit gereist: In Kasachstan sah er sich einen Containerbahnhof an, in Kenia eine Bahnlinie, die im Nirgendwo endet. Auch Georgien, Deutschland, Ungarn, Griechenland und Sri Lanka stattete er Besuche ab. An allen Stationen sprach er mit Beteiligten und Betroffenen. Herausgekommen ist eine umfassende Betrachtung des Projekts der Neuen Seidenstraße, die viele unterschiedliche Perspektiven einschließt und vorschnelle Beurteilungen vermeidet.
Das Projekt der Neuen Seidenstraße treibt viele Länder in eine Abhängigkeit von China
Als problematisch beschreibt Mattheis vor allem den Mechanismus der Schuldenfalle. Er illustriert das unter anderem am Beispiel Sri Lanka, wo China einen Hafen und einen Flughafen finanzierte. Beide Projekte brachten nicht den erhofften Gewinn ein und nach einigen Jahren konnte die Regierung in Colombo die Raten für die Kredite nicht mehr zahlen. 2017 konfiszierte China den Hafen und betreibt ihn seitdem selbst.
Auf den Autobahnen und Zugstrecken werden nicht nur chinesische Waren transportiert, sondern auch Ideologie und Dominanz. Philipp Mattheis
Sri Lanka hat also nun auf dem eigenen Staatsgebiet über einen wichtigen Bestandteil der Infrastruktur keine Kontrolle mehr – für China ein unschlagbares Druckmittel, das zum Beispiel bewirkt, dass Sri Lanka bei Abstimmungen der UN so gut wie immer im Sinne Chinas abstimmt. Eine bedenkliche Entwicklung, die man auch in einigen anderen Ländern beobachten kann.
Demokratie, Menschenrechte oder Umweltschutz spielen bei den chinesischen Investitionen keine Rolle
Außerdem weist Mattheis darauf hin, dass mit den chinesischen Krediten oftmals Autokratien und Diktaturen gestützt werden. Vor allem solche Länder, die von westlichen Sanktionen betroffen sind, wie zum Beispiel der Iran, freuen sich über die Unterstützung aus dem Osten. Der Westen weigert sich – und China springt großzügig und unkompliziert ein. Auch wenn ein Teil des Geldes in den Geldbörsen korrupter Politiker landet, ist das für China kein Drama. In den kommenden Jahren plant Peking zum Beispiel Investitionen in Höhe von 400 Milliarden US-Dollar allein im Iran.
Das Geld aus Peking fließt oft in Länder, die von liberalen Demokratien und ihren Institutionen gemieden werden.Philipp Mattheis
Auf Umweltstandards, traditionelle Lebensweisen und Minderheiten nehmen die chinesischen Investoren keine Rücksicht. Wo es dem Projekt dient, werden Landbesitzer enteignet und Ökosysteme zerstört. In Burma wurden zum Beispiel beinahe 400 Landbesitzer für den Bau einer chinesisch finanzierten Kupfermine vertrieben. Proteste gegen dieses Vorgehen schlug die burmesische Regierung mit Gewalt nieder.
Besonders schlimm trifft es die Uiguren, die schon vor dem Projekt eine in China unterdrückte Minderheit waren. Da sie in einem Gebiet leben, durch das im Rahmen der Neuen Seidenstraße zahlreiche Verkehrswege und Pipelines gebaut werden, hat die chinesische Regierung Angst vor Sabotage oder Anschlägen. Ihre Lösung: Die Uiguren werden heute nahezu lückenlos überwacht und brutal unterdrückt. Uiguren, die China verlassen konnten, berichten von Lagern, in denen Gehirnwäsche, Vergewaltigungen und Zwangssterilisierungen an der Tagesordnung sind.
Verfolgt China einen bösartigen Masterplan?
Trotz all dieser problematischen Aspekte der Neuen Seidenstraße bleibt der Ton des Buches immer ausgeglichen und wird nie alarmistisch. Philipp Mattheis spekuliert nicht, sondern benennt deutlich auch die Grenzen dessen, was über das Projekt bekannt ist. Anstatt mit dem Finger auf das „böse China“ zu zeigen, schreibt Mattheis in seinem Buch auch über die Mitschuld des globalen Westens am zunehmenden Einfluss Chinas. Immerhin haben viele der Länder, die sich heute über chinesische Investitionen freuen, schlechte Erfahrungen mit dem Kolonialismus des Westens gemacht und freuen sich jetzt über wirtschaftliche Partnerschaften, die eher auf Augenhöhe stattfinden.
Auch die positiven Seiten der Neuen Seidenstraße finden in Mattheis’ Buch an vielen unterschiedlichen Stellen Erwähnung. So berichtet zum Beispiel der Vorsitzende der Handelskammer von Nayvasha in Kenia, dass sich die Wirtschaft entlang der von China finanzierten Bahnlinie überaus positiv entwickelt. Auch für Duisburg, das von einer neuen Bahnstrecke bis nach China profitiert, hat die Neue Seidenstraße positive Auswirkungen. Als zum Beispiel während der Coronakrise zahlreiche Frachter in chinesischen Häfen feststeckten, kamen die Güterzüge aus dem Reich der Mitte nach wie vor pünktlich in Duisburg an.
So verführerisch und zutreffend das Bild vom boshaften Geldverleiher in manchen Fällen sein mag – es greift zu kurz. Für Peking ist die Neue Seidenstraße nur dann ein Erfolg, wenn sie tatsächlich für alle Beteiligten ein Gewinn ist.Philipp Mattheis
Mattheisʼ Bilanz des Projektes ist also gemischt. Wie so oft, wird erst die Zukunft zeigen, was die Investitionen für die globale Wirtschaft und das Machtgefüge bedeuten.
Die dreckige Seidenstraße liest sich spannend wie ein Krimi und abwechslungsreich wie ein Reisebericht. Anders als Titel und Untertitel des Buches vermuten lassen, hinterlässt die Lektüre das Gefühl, einen umfangreichen und ausgeglichenen Einblick in ein komplexes Thema erhalten zu haben.