Was wir zu wissen glauben
Mehr als nur Atome

Was wir zu wissen glauben

Gibt es Gott? Leben wir in einer Simulation? Und haben wir einen freien Willen? Wer sich für die ganz großen Fragen interessiert, kann sich an Gurus und Philosophen wenden – oder an die Physikerin und begnadete Erklärerin Sabine Hossenfelder.

In Zeiten von Fake News und Verschwörungstheorien stellt sich die Frage nach dem, was wirklich ist, mit besonderer Dringlichkeit. Naturwissenschaften wie die Physik erhellen die Zusammenhänge, die unsere Welt bewegen. Doch kann die Physik auch bei der Beantwortung spiritueller, religiöser oder existenzieller Sinnfragen helfen?

Na, wer denn sonst, findet Sabine Hossenfelder. Die Physikerin und Wissenschaftsjournalistin hat es neben ihren Büchern vor allem mit ihrem YouTube-Kanal (aktuell knapp eine Million Follower) zu Bekanntheit gebracht. Sie doziert ebenso kompetent wie charmant und schafft es, Dinge zu erklären, von denen man ein paar Minuten zuvor nicht mal ansatzweise eine Ahnung hatte. Dinge wie schwarze Materie oder Reisen jenseits der Lichtgeschwindigkeit.

Ein ähnlich ernsthafter, aber heiterer Ton herrscht in ihrem neuesten Buch. Hossenfelder wendet wissenschaftliche Erkenntnisse auf philosophische und lebensweltliche Fragen an – und sorgt damit für jede Menge Schmunzeln, Kopfkratzen und Aha-Momente.

Kein Rumgetänzel

„No hype, no spin, no tip-toeing around inconvenient truths“ – so bewirbt Hossenfelder ihren YouTube-Kanal. Keine Übertreibungen oder Verdrehungen, und vor allem keine Rumgetänzel um unangenehme Wahrheiten. Mit einer solchen steigt sie gleich in ihr Buch ein: „Wenn Ihre Überzeugungen mit empirisch belegtem Wissen im Widerstreit stehen“, so ihre Triggerwarnung, „dann wiegen Sie sich in einem Wahn. Dann ist dieses Buch nichts für Sie.“

Wenn Ihre Überzeugungen mit empirisch belegtem Wissen im Widerstreit stehen, wiegen Sie sich in einem Wahn. Das kann ich durchaus verstehen, glauben Sie mir – aber dann ist dieses Buch nichts für Sie.Sabine Hossenfelder

Wer bereit ist, diese Warnung in den Wind zu schlagen, und die Konfrontation mit wissenschaftlicher Wahrheit nicht scheut, wird das Buch mit freudigem Erstaunen lesen. Natürlich, gibt Hossenfelder gleich eingangs zu, kann die Physik längst nicht alle großen Rätsel lösen, vor denen die Menschheit schon seit jeher steht. Aber sie kann den Rahmen abstecken, in dem sich außerwissenschaftliche Erklärungen bewegen müssen, wollen sie denn ernst genommen werden.

Nicht ernst genommen werden kann laut Hossenfelder etwa die Idee, dass wir alle von einem Superwesen in einer Simulation gefangen gehalten werden. „Die Simulationshypothese ist eine Art von religiösem Glauben, keine Wissenschaft“, sagt sie. Ein solches Superwesen müsste nämlich den heiligen Gral der modernen Physik besitzen: eine universale Theorie für alles. Nur so könnte es alle Naturgesetze des Universums gleichzeitig steuern. Der dazu nötige Quantencomputer dürfte aber laut Hossenfelder kaum realisierbar sein. Die benötigte Rechenleistung wäre exorbitant hoch, da die Simulation beständig jedes noch so kleine Teil des Universums berechnen müsste, um eine stimmige Simulation aufrechtzuerhalten.

Ebenso wenig kann sie der Idee eines Weltenschöpfers abgewinnen. Die Beschaffenheit unseres Universums ist zwar erstaunlich – Hossenfelder erwähnt die 26 sogenannten physikalischen Konstanten, darunter die Lichtgeschwindigkeit und die Gravitationskonstante, deren Werte exakt auf dieser Höhe liegen müssen, damit menschliches Leben überhaupt möglich ist – aber das bedeutet ihrer Meinung nach noch lange nicht, dass ein genialer Schöpfer diese Bedingungen präzise aufeinander abgestimmt hat.

Ein Schöpfer oder ein Multiversum wird von der Wissenschaft zwar nicht ausgeschlossen, aber die Wissenschaft hat deren Existenz auch nicht nötig.Sabine Hossenfelder

Mit gleicher Berechtigung, so Hossenfelder, kann man daran glauben, dass es eine unendliche Menge sogenannter Multiversen gibt, in denen alle möglichen Größenwerte und ihre Kombinationen realisiert sind. Beide Annahmen – jene vom Schöpfer und die der Multiversen – sind unwissenschaftlich: Mit ihrer Hilfe könnte die Physik nicht mehr berechnen oder erklären, als sie das auch ohne sie kann. Solche Mehrannahmen, die dem bereits Bekannten nichts hinzufügen, versucht die Wissenschaft grundsätzlich zu vermeiden.

Gestern ist heute ist morgen

Hossenfelder reißt aber keineswegs alles ab, was an philosophischen und spirituellen Gebäuden jemals entworfen worden ist. So ist sie beispielsweise erstaunlich offen für die Idee eines Lebens nach dem Tod. Immerhin, führt sie aus, gibt es gemäß der Einstein’schen Relativitätstheorie ohnehin keine universale, einheitliche Zeit, die allen kosmischen Individuen den gleichen Takt vorgibt. Die Zeit ist, wie der Raum, relativ, also abhängig von der Position und der Geschwindigkeit, mit der sich jemand durch die Raumzeit bewegt. Daher können zwei Ereignisse für einen Beobachter gleichzeitig geschehen, für einen anderen Beobachter hingegen aufeinander folgen. Alles nur eine Frage des Standpunkts. So wie wir Menschen auf der Erde gleichzeitig ein irdisches Ereignis und den Polarstern, so wie er vor 434 Jahren aussah, sehen, könnte man deshalb für zwei beliebige, nicht kausal verbundene Ereignisse einen Beobachter annehmen, der sich so durch die Raumzeit bewegt, dass er etwa unsere eigene Geburt und das Aussterben der Dinosaurier gleichzeitig beobachten könnte. Es ist also zumindest theoretisch möglich, folgert Hossenfelder, dass wir mit unseren verstorbenen Vorfahren in Kontakt treten könnten.

So verrückt es klingt, die Vorstellung, dass das Universum intelligent ist, ist mit allem, was wir bisher wissen, vereinbar.Sabine Hossenfelder

Eine andere Behauptung, der Hossenfelder eine gewisse Plausibilität attestiert, ist die eines „denkenden“ Universums. So wie es im Hirn Ballungen von Neuronen gibt, gibt es im Kosmos Galaxien, die über sogenannte Filamente miteinander verbunden sind – analog zu den neuronalen Axonen im Hirn. Nicht auszuschließen, dass diese strukturelle Ähnlichkeit auch eine funktionale zur Folge hat, welche dafür sorgt, dass das All ein Bewusstsein entwickelt. Der derzeitige Stand der Wissenschaft erlaubt diese Annahme. Das eigentliche naturwissenschaftliche Problem sieht Hossenfelder allerdings anderswo: bei der Definition von Bewusstsein. Unser Ehrgeiz muss sein, zu verstehen, wie Bewusstsein aus der Wechselwirkung von Elementarteilchen entsteht. Das wissen wir bis heute nicht.

Keine geklonten Gehirne

Mit welchen dieser Fragen wir uns vordringlich beschäftigen und auf welche wir dereinst Antworten finden werden, liegt für Sabine Hossenfelder nicht in unserer Macht. Denn mit einem scheinbar selbstverständlichen Konzept kennt die nüchterne Analytikerin keine Gnade: dem freien Willen. Einen vom Körper unabhängigen Geist – die Philosophie spricht hier von einem „Dualismus“ – kann es laut ihr deshalb nicht geben, weil gemäß dem materialistischen Standpunkt der Wissenschaft jede noch so große und komplexe Einheit bloß die Summe ihrer Bestandteile ist. Ist das Verhalten der Teile bekannt, lässt sich das Verhalten der größeren Einheit erklären. Dies wiederum bedeutet, dass sich alle emergenten Strukturen – also auch die Strukturen in unserem Hirn, die uns eine Entscheidung treffen lassen – aus ihrer elementaren Basis ableiten lassen. Folgt man dieser Argumentation, gibt es keinen freien Willen und jedes menschliche Verhalten ist theoretisch komplett vorhersehbar.

Als Sean Carroll seinen kompatibilistischen Standpunkt mit „Der freie Wille ist so real wie ein Baseball“ zusammenfasste, hätte er „und genauso frei“ hinzufügen sollen.Sabine Hossenfelder

In der Praxis ist menschliche Intelligenz enorm schwierig zu durchschauen. Das hat für Hossenfelder auch etwas Beruhigendes: Es mindert die Gefahr, dass eine künstliche Intelligenz, gebaut nach dem Vorbild des menschlichen Gehirns, sich unkontrolliert verselbstständigen könnte. Eine Kopie eines menschlichen Hirns durch eine Computersoftware würde eine exakte Messung des Hirns erfordern – und sobald diese Messung in den Quantenbereich des Gehirns vordringt, würde jede Messung das Messobjekt verändern. Es ist laut Hossenfelder deshalb unmöglich, ein Gehirn bis in die Quantenebene hinein exakt zu klonen.

Das muss nicht heißen, dass KI kein Gefahrenpotenzial birgt, aber die Probleme liegen für Sabine Hossenfelder anderswo: im menschlichen Umgang mit den Supercomputern. Sie fragt sich: Wie soll der Zugang zur KI geregelt werden, wenn sie im Besitz reicher Menschen, Unternehmen oder Staaten ist? Wie soll die Wettbewerbsverzerrung durch KI ausgeglichen werden? Wie verhindern wir ein weiteres Aufgehen der Arm-Reich-Schere? Und wie wollen wir feststellen, ob und wie KI allenfalls manipuliert wird? 

Das wiederum sind Fragen, die weder die Philosophie noch die Physik beantworten kann. Hier sind wir alle gefragt. Geht es nach Sabine Hossenfelder, steht auch längst fest, wie wir damit umgehen werden. Wir wissen es bloß noch nicht.

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