Wird die Welt ein besserer Ort, weil uns Blitzlieferdienste den Gang zum Supermarkt ersparen? Mit Sicherheit nicht. Christoph Keese richtet seinen Blick auf diejenigen Technologien, die das Potenzial haben, unsere Welt nachhaltig zu verändern.
Gute Ideen zur Rettung der Welt
Für die Vorstellung seines Buches Life Changer gab Christoph Keese ein Radio-Interview in Mainz. Für den Weg von Berlin nach Mainz brauchte er nach eigenen Aussagen sechs Stunden. Nicht etwa per Zug oder Auto, sondern per Flugzeug. Was für eine Zeitverschwendung für den ehemaligen Journalisten, der heute geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensberatung Hy ist, die zum Axel-Springer-Konzern gehört. Mit dem Problem und den Kosten der Mobilität war Keese im Interview auch gleich beim Thema seines Buches: der Zukunftstechnologie. In der Zukunft, so sagt er, würde man so eine Reise vielleicht mit einem Zug in einer Vakuumröhre absolvieren, der Städte zu einem gigantischen Ballungsraum verbinden könnte. Reisezeit: 40 Minuten statt sechs Stunden.
Kein Firlefanz
Christoph Keeses Buch Life Changer wartet mit einem sehr anspruchsvollen Untertitel auf: „Wie moderner Erfindergeist unser Leben verändert und den Planeten rettet“. Ein Buch mit Purpose also. Damit ist das Thema klar formuliert und der Ton gesetzt. Es geht nicht um die Frage, wie uns der nächste Blitzlieferdienst den Alltag erleichtert. Das ist Firlefanz. Hier geht es um die großen Themen – eben die Life Changer. Genauer, das verrät der zweite Untertitel, sogar um Innovationen aus Deutschland. Keeses Buch ist aber vor allem eine inspirierende Ideensammlung, denn in den wenigsten Disziplinen gibt es bereits marktreife Lösungen.
Deduktiv vs. analog
Vor Deutschland kommen die USA. Auftritt: Elon Musk. Christoph Keese macht aus seiner Bewunderung für den Unternehmer aus Übersee keinen Hehl. Mehr als einmal dient er als leuchtendes Vorbild. „Mit Unternehmungen wie Tesla und SpaceX stellt Elon Musk Altbekanntes auf den Kopf“, feiert ihn Keese. Musk sei ein Paradebeispiel für das deduktive Denken als Alternative zum analogen Denken. Was damit gemeint ist?
Nach Jahrzehnten der digitalen Steigerung unserer Bequemlichkeit ist es nun an der Zeit, unser Innovationsgeschick zur Behebung existenzieller Probleme anzuwenden.
Christoph Keese
Beim analogen Denken schließt man vom Besonderen aufs Besondere. Bezogen auf den Antrieb von Fahrzeugen lautet eine typische Analogie: „Verbrenner haben in der Vergangenheit funktioniert, also funktionieren sie auch in der Zukunft.“ So hat sich die deutsche Autoindustrie seit Jahren davor gedrückt, einen zukunftsfähigen Antrieb zu entwickeln, so Keese. Elon Musk denke dagegen deduktiv und in sogenannten „First Principles“. Er schließe von allgemeinen Grundsätzen auf konkrete Folgen. So kam er auf die Idee, E-Autos in Fabriken zu bauen, deren Stückzahl den aktuellen Bedarf weit übersteigt, oder Weltraumraketen zurück zur Erde zu steuern, um sie zu recyceln.
Echte Life Changer lösen existenzielle Probleme
Dass Innovationen keine Rohrkrepierer sein müssen, kommt laut Keese vor allem daher, dass es heute drei wichtige Faktoren gibt, die ihnen zum schnellen Erfolg verhelfen. Erstens: genug Wagniskapital für die Finanzierung neuer Ideen. 2021 habe sich die Wagniskapitalsummen für deutsche Start-ups gegenüber dem Vorjahr um 229 Prozent auf 17,4 Milliarden Euro erhöht. Zweitens: Standardisierung. Vorkonfigurierte Technologiekomponenten erleichtern Neuentwicklungen. Und drittens: die Existenz von Vermarktungsplattformen. Erfinder können so ihre Ideen selbst vermarkten. „Neue Ideen kommen heute so zügig und in dichter Folge auf den Markt wie früher nur Butterbrezeln“, kommentiert Keese. Was aber macht einen echten Life Changer aus? Er sei Produkt gewordener Fortschritt. Und Fortschritt sei eine Antwort auf die Grundübel der Menschheit. Dazu gehören die Angst vor Armut und Krankheit, Kritik, dem Verlust geliebter Menschen, Alter und Tod. Übersetzt in Innovationsfelder kommt Keese auf die Themen Energie, Kommunikation, Mobilität, Gesundheit, Ernährung und das soziale Sammelthema Bildung, Gesellschaft und Staat.
Energiewirtschaft ist Mangelverwaltung
Das Thema Energie ist im Jahr 2022 ohne Frage eines der dringlichsten Probleme überhaupt. Das war schon vor dem Ukrainekonflikt so und Keese brauchte kein Prophet zu sein, das vorauszusehen. Die Energiewirtschaft nennt er eine Mangelwirtschaft. Wir könnten, so schreibt Keese, zum Beispiel längst das Meer entsalzen und die Trinkwasserprobleme der ganzen Welt lösen – doch die nötige Technologie verschlingt zu viel Energie. Die Menschheit verbraucht heute rund 25 000 Terawattstunden Strom pro Jahr – bis zum Jahr 2050 werden es wohl 40 000 Terawattstunden sein. Das ist eine gigantische Menge, für die bis heute keine Stromerzeuger zur Verfügung stehen. Auch die Energiewende verlangt nach Strom – von der Elektromobilität auf den Straßen bis hin zu Wärmepumpen in unseren Häusern.
Wir stehen vor einer Energielücke gigantischen Ausmaßes.
Christoph Keese
Vielleicht bietet das von Christoph Keese als Beispiel für deutsche Innovationskraft genannte Unternehmen Marvel Fusion aus München einmal eine Lösung. Hier wird daran gearbeitet, Kernenergie kommerziell nutzbar zu machen. Es geht darum, eine unerschöpfliche Energiequelle aufzutun – jedoch ohne die negativen Folgen von Radioaktivität. Allerdings steht das Verfahren noch am Anfang. Im Erfolgsfall wäre es eine Antwort auf die immer drängendere Energiefrage, glaubt Keese.
Im Hyperloop durch die Vakuumröhre
Im Themenfeld Kommunikation sieht Keese ebenfalls ein drängendes Problem – nämlich das der gesellschaftlichen Teilhabe. In Regionen, in denen die Rahmenbedingungen schlecht sind, wo es kein schnelles Internet und kaum Mobilfunk gibt, herrscht meist bittere Armut. Schnelles Internet bedeutet gemäß Keese nicht nur Spaß und Kommunikation. Es bedeutet auch Bildung, Unabhängigkeit und selbstbestimmtes Arbeiten. Außerdem drängen mittlerweile nicht nur Menschen ins Netz, sondern auch Maschinen. Bis 2025 sollen es weltweit 75 Milliarden Geräte sein, die sich über das Netz im Internet of Things verständigen. Das Netz braucht dafür von allem mehr: mehr Technik, mehr Geräte, mehr Bandbreite. Rettung kommt einmal mehr von Elon Musk: Sein Projekt „Starlink“ermögliche pfeilschnelles Internet aus dem All. Dort, wo es funktioniert, lasse es alle Kabelanschlüsse dieser Welt weit hinter sich.
Unserem Bewegungsdrang sind wir fast hilflos ausgeliefert.Christoph Keese
Auch im Bereich der Mobilität sind laut Keese bahnbrechende Veränderungen zu erwarten. Der Autopilot, der uns ohne unser Zutun durch den Straßenverkehr lotst, sei bereits Realität geworden – sogar als deutsche Erfindung von Mercedes-Benz. Vollkommen neue Ideen warten auf ihre Realisierung: etwa der Hyperloop, ein Hochgeschwindigkeitszug, der in der eingangs erwähnten Vakuumröhre ohne Luftwiderstand irrwitzige Geschwindigkeiten erzielen kann.
Veganes Fleisch aus dem Labor
In der Medizintechnik lenkt Christoph Keese den Blick auf neuartige Forschungsansätze, wie etwa die Forschung am Zellgedächtnis CRISPR. Künftig wird es vielleicht möglich sein, Zellen so zu programmieren, dass sie besonders üble Viren gar nicht erst hineinlassen. Im Bereich der Ernährung schlägt das Herz des Autors für „Clean Meat“: Fleisch aus dem Labor. Das klingt zugegebenermaßen etwas unappetitlich und mancher fühlt sich vielleicht an die „Fleischfabriken“ aus dem alten Louis-de-Funès-Film Brust oder Keule erinnert. Hinter der Idee von „Clean Meat“ steckt aber die Idee, echtes Fleisch – also nichts anderes als Proteine – im Labor zu kultivieren. Und wie sollen die schmecken? Wie ein normales Rinderfilet, das aber nicht in einem Tier gewachsen ist, das dafür gemästet, im engen Stall gehalten und getötet wurde. Noch sei diese Idee aber zu teuer.
Freundliche Kohlehydrate
Christoph Keese ist als ehemaliger Chefredakteur der Welt am Sonntag und Mitbegründer der Financial Times Deutschland eine journalistische Legende. Den saloppen Zungenschlag und das geschmeidige Storytelling beherrscht der Mann. Deshalb ist die Lektüre seines Buches auch über weite Strecken eine Freude. An einigen Stellen geht mit ihm aber die Anschaulichkeits-Sau durch: Eigentlich alles wird hier mit Adjektiven überhöht. Selbst Kohlehydrate werden da mal zu emotionsgeladenen Elementen stilisiert. Kostprobe: „Wenn Wasserstoffatome denken und fühlen könnten, würden sie sich vielleicht darüber freuen, dass ihre verlorene Energie eine neue Heimat in dem freundlichen Kohlenhydrat auf der Erde gefunden hat.“ Soso. Abgesehen von solchen Ausrutschern: eine lesenswerte Innovationsschau made in Germany.