Erziehungsratgeber gibt es mittlerweile wie Sand am Meer. Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen (und deine Kinder werden froh sein, wenn du es gelesen hast) hebt sich nicht nur durch den ungewöhnlichen Titel von der breiten Masse ab. Philippa Perry erhebt nämlich erst gar nicht den Anspruch, einen Ratgeber zu schreiben.
Wieso erst jetzt?
„Sie werden in diesem Buch nicht allzu viele Kniffe und Tricks in Sachen Erziehung finden, und es wird Sie vielleicht manchmal ärgern“, stellt die britische Psychotherapeutin bereits im Vorwort klar. Vielmehr möchte Perry den Blick dafür schärfen, was tatsächlich wichtig ist, damit sich Kinder so entwickeln, wie es ihrem Naturell entspricht. Im Fokus steht dabei die Beziehung zwischen Eltern und Kind von der Schwangerschaft bis ins hohe Erwachsenenalter.
Die Vergangenheit der Eltern bestimmt die Zukunft ihrer Kinder
Streng genommen setzt die Autorin sogar noch früher an – und zwar in unserer eigenen Kindheit. In dieser sieht Perry den Schlüssel für all das, was wir unseren Kindern mitgeben. Das heißt aber nicht, dass man verloren hat, wenn die eigene Kindheit nicht die beste war. Denn, so die Autorin, alles, was jemals zu Bruch ging, lässt sich irgendwie wieder reparieren, selbst Dinge in der Vergangenheit. Das Thema „Bruch und Reparatur“ zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch und gehört mit Sicherheit zu dem, was Philippa Perry den Lesern mit auf den Weg geben möchte. Es kommt ihrer Überzeugung nach nicht darauf an, perfekt zu sein. Viel wichtiger ist die Reflexion des eigenen Verhaltens sowie eine entsprechende Reaktion darauf – sei es die Änderung von Verhaltensmustern oder eine Entschuldigung bei denen, deren Gefühle wir verletzt haben.
Nicht der Bruch ist das Entscheidende, sondern die Reparatur.Philippa Perry
Generell spielen für Perry die Gefühle eine zentrale Rolle. Vor allem natürlich diejenigen der Kinder. Diese, so die Autorin, gelte es wahrzunehmen, zu akzeptieren und mit Unterstützung der Eltern in Worten oder Bildern auszudrücken, damit sie von den Kindern verarbeitet und kommuniziert werden können. Das Thema Kommunikation ist ein weiterer Schwerpunkt des Buches. Sei es, wenn es darum geht, Erklärungen für das Verhalten der Kinder zu suchen, mit Wutausbrüchen, Quengeleien und Lügen umzugehen oder klare Grenzen zu setzen.
Einiges, was Philippa Perry in ihrem Buch anspricht, lässt sich aber nicht nur auf den Umgang mit den eigenen Kindern übertragen, sondern auch auf den Umgang mit Mitmenschen. Zum Beispiel das Thema Zuhören: Wir sind oft überzeugt davon, dass wir zuhören, warten aber in Wahrheit nur darauf, dass unser Gegenüber eine Pause macht und wir endlich selbst losplappern können. Dass sich vieles auf unser generelles Miteinander übertragen lässt, ist jedoch nicht allzu überraschend. Schließlich sind Babys und Kinder, so Perry, „auch Menschen“, was wir uns immer vor Augen halten sollten. Das Buch bietet somit auch Lesern ohne Kinder einen Mehrwert – sei es, um eigene Verhaltensmuster zu reflektieren oder die eigene Kindheit noch einmal aus einer neuen Perspektive Revue passieren zu lassen und sich selbst bzw. die eigenen Eltern dadurch besser kennenzulernen.
Nobody’s perfect – das gilt auch für die Kindererziehung
Dennoch liegt der Schwerpunkt natürlich auf dem Thema Erziehung, wobei Perry dafür plädiert, auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen sowie einen kooperativen Umgangsstil zu pflegen. Wichtig für die seelische Gesundheit von Kindern sind der Autorin zufolge gerade auch die ersten Lebenswochen und -monate. Während dieser Phase ist es laut Perry entscheidend, mithilfe wechselseitiger Kommunikation – die schon mit dem ersten Laut des Babys beginnt – das Fundament für eine stabile Eltern-Kind-Bindung zu legen. Dabei benennt sie auch einige Fallstricke, wie etwa die Diaphobie, also die Angst vor Dialogen, „Handysucht“ oder den Mangel an Aufmerksamkeit. Vielen Eltern sauer aufstoßen dürfte die Haltung der Autorin zum Thema Schlafen. Denn das Ignorieren von nächtlichem Schreien ist ihrer Überzeugung nach schädlich für Babys und kann zu einem „Bruch“ führen, der anschließend repariert werden muss. Vom klassischen Schlaftraining hält Perry also nichts. Als Alternative rät sie zum Konzept der „Schlafanstöße“, bei dem Kinder dazu gebracht werden sollen, innerhalb ihrer „Toleranzgrenzen“ einzuschlafen.
Das Arbeiten mit Schlafanstößen statt mit dem Schlaftraining und mit Ermutigungen statt Strafen wird länger dauern, aber ich glaube, es lohnt sich.Philippa Perry
Die Autorin scheut sich auch nicht, weitaus unangenehmere und oft tabubehaftete Aspekte im Zusammenhang mit der Kindererziehung anzusprechen. Hierzu zählen die Trennung der Eltern, das Gefühl der Vereinsamung, das viele neue Eltern umschleicht, oder Phasen der Überforderung und Unsicherheit. Dabei versucht Perry stets, den Lesern Mut zuzusprechen und ihnen den Anspruch auszutreiben, perfekt sein zu müssen. Beispiele aus ihrer langjährigen Arbeit als Psychotherapeutin verdeutlichen leidgeprüften Eltern, dass sie mit ihren Problemen beileibe nicht allein sind. Zusätzlich laden zahlreiche Übungen dazu ein, das Gelesene auf sich zu übertragen bzw. die eigenen Verhaltensweisen zu reflektieren. Beispielsweise, wenn es darum geht, den eigenen Bindungstyp zu ermitteln oder herauszufinden, welche Art von Unterstützung man benötigt.
Philippa Perry gelingt es, selbst oftmals schwierige Themen mit einer gewissen Leichtigkeit sowie einer ordentlichen Portion Optimismus anzugehen. Das lässt einen auch darüber hinwegsehen, dass sie bestimmte Punkte häufig wiederholt oder einem an der einen oder anderen Stelle das Wort „Küchenpsychologie“ in den Sinn kommen könnte.
Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen (und deine Kinder werden froh sein, wenn du es gelesen hast) ist ein enorm vielschichtiger und feinfühlig geschriebener Ratgeber, der eigentlich gar keiner sein möchte. Die Autorin verzichtet zum Glück durchweg auf den erhobenen Zeigefinger und führt uns stattdessen vor Augen, dass wir am Ende alle nur Menschen sind. Eine klare Leseempfehlung für alle Eltern, die nicht nur die Bedürfnisse ihrer Kinder, sondern auch ihre eigenen besser verstehen möchten, sowie für alle erwachsenen Kinder, die einen genaueren Blick in ihre Vergangenheit werfen möchten – und sich danach möglicherweise fragen, wieso dieses Buch erst jetzt geschrieben wurde …