Jaron Lanier war am Aufbau des Internets beteiligt – und an Versäumnissen, die Social Media zu skrupellosen Monopolisten werden ließen. Nun bemüht er sich um Schadensbegrenzung und ruft zu ihrem Boykott auf.
Wie wir uns gegen übergriffige Social Media wehren können
Der Geist ist aus der Flasche
Jaron Lanier ist Bestsellerautor, Erfinder und arbeitet heute als Chefstratege bei Microsoft Research. Vor allem aber hat er in den 90er-Jahren das Internet mit aufgebaut. Vom libertären Geist beseelt wollten er und seine Kollegen das World Wide Web so offen wie möglich gestalten und staatliche Einflüsse minimieren. Daher verzichteten sie auf eine Reihe von Funktionen, die sie hätten einfügen können, etwa eine Suchfunktion, Speichermöglichkeiten oder einen Mechanismus für den Transfer von Geldzahlungen. Sie verließen sich darauf, dass Unternehmen diese Dienste schon anbieten würden.
Dabei übersahen sie, wie Lanier schuldbewusst zugibt, einen entscheidenden Aspekt, nämlich den Netzwerkeffekt. Alle Nutzer eines Dienstes würden sich über kurz oder lang auf einer einzigen Plattform versammeln. Die Internetprioniere schufen die Voraussetzungen für neue globale Monopole nahmen diesen auch noch den schwierigsten Teil der Arbeit ab. Genau mit diesem Problem schlagen wir uns heute herum und würden die entfesselten Geister gerne wieder zurück in die Flasche zwingen. Dafür ist es wohl zu spät.
Geschäftsmodelle, die auf Manipulation und Lüge basieren
Zwar betont Lanier immer wieder, dass das Internet eine überaus sinnvolle Einrichtung ist und viele Vorteile bietet. Aber es gibt eben auch üble Auswüchse, auf die seine dringende und im Buchtitel formulierte Empfehlung, sämtliche Accounts sofort zu löschen, gerichtet ist. Er bezeichnet Social Media als Bummer-Plattformen oder schlicht Bummer. „Bummer“ ist ein Akronym für das ziemlich sperrige „Behaviors of Users Modified, and Made into an Empire for Rent“ (ungefähr: „Verhaltensweisen von Nutzern, die verändert und zu einem Imperium gemacht wurden, das jedermann mieten kann“). Doch so ganz ernst gemeint ist das Akronym wohl nicht. Denn umgangssprachlich bedeutet Bummer im angelsächsischen Raum einfach „Was für ein Mist!“ – das sagt alles. Bummer steht für ein Geschäftsmodell, von dem insbesondere Facebook und Google mitsamt ihren Tochterunternehmen vollständig abhängig sind. Andere Firmen nutzen einzelne Elemente davon. Die sechs Komponenten sind laut Lanier: Arschloch-Herrschaft, totale Überwachung, aufgezwungene Inhalte, Manipulation, Skrupellosigkeit und Fake People.
Das System verstärkt negative Emotionen stärker als positive. Das bedeutet, dass es der Gesellschaft effizienter schaden als es sie verbessern kann.
Jaron Lanier
Mit Arschloch-Herrschaft meint Lanier, dass Niedertracht und Boshaftigkeit mehr Aufmerksamkeit erhalten als anständiges Benehmen. Das größte Arschloch ist also im Vorteil. Totale Überwachung bedeutet, dass rund um die Uhr mit dem Internet verbundene Geräte ständig Daten über Kontakte, Interaktionen, Aufenthaltsort, Gesundheit, Gefühle, Einkäufe und vieles mehr liefern. Algorithmen werten die Informationen aus, vergleichen sie und erzeugen ein präzises Persönlichkeitsprofil, das durch adaptives Feedback ständig verbessert wird, um aktuelle Bedürfnisse zu erkennen. Aus ihnen ergibt sich, welche Inhalte einem Nutzer als personalisierte Empfehlungen nahezu unmerklich aufgezwungen werden. Sie sollen eine Verhaltensmodifikation, also eine Manipulation des Nutzers bewirken. Das Geschäftsmodell ist pervers, weil es Menschen skrupellos erpresst, Dinge zu tun, die sie nicht wollen. Wer beispielsweise als Journalist im Geschäft bleiben und zu diesem Zweck von Google gelistet werden will, ist gezwungen, entweder Geld für Anzeigen auszugeben oder Content zu liefern. Fake People schließlich, also Phantome, hinter denen tatsächlich KI-Systeme stecken, täuschen Nutzer und beeinflussen ihr Kaufverhalten obendrein mit erlogenen Bewertungen.
Nutzerschäden für Profite
Bummer-Plattformen nutzen Erkenntnisse des Behaviorismus, einer psychologischen Forschungsrichtung. Algorithmen analysieren sehr genau, welche Reaktion eine Kombination von Inhalten und Werbung beim Nutzer bewirkt. Sie bauen kleine Modifikationen ein und beobachten, welche Änderungen des Nutzerverhaltens sich daraus ergeben. Sie versuchen gezielt, Menschen mit behavioristischen Methoden zu manipulieren und süchtig zu machen, um damit Geld zu verdienen.
Der Süchtige verliert nach und nach jeden Bezug zur realen Welt und zu realen Menschen. Wenn viele Menschen nach manipulativen Systemen süchtig sind, wird die Welt finster und verrückt.
Jaron Lanier
Schädliche Auswirkungen sind ihnen bekannt, aber sie nehmen sie in Kauf. Lanier zitiert Sean Parker, den ersten Präsidenten von Facebook: „Wir müssen dir sozusagen ab und zu einen kleinen Dopamin-Kick verpassen, weil jemand ein Foto oder ein Posting oder sonst was geliked oder kommentiert hat. (…) Wahrscheinlich hat es negative Auswirkungen auf die Produktivität. Wer weiß, was es mit den Gehirnen unserer Kinder anstellt.“ Ein ehemaliger hochrangiger Facebook-Mitarbeiter, den der Autor ebenfalls zu Wort kommen lässt, räumt ein: „Jetzt haben wir, glaube ich, einen wirklich schlimmen Zustand erreicht. Er untergräbt das Fundament des Verhaltens der Menschen zu- und untereinander.“
Die einzige Lösung: alle Nutzerkonten löschen
Auch die politischen Auswirkungen des Bummer-Geschäftsmodells sind nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, meint Lanier. Social-Media-Konzerne schwächen die Demokratie, statt sie zu stärken, und helfen autoritären Politikern. Anonyme Falschmeldungen und Horrorgeschichten verbreiten sich dort in Windeseile und führen in Entwicklungsländern gar zu Lynchjustiz. Als Beispiele sieht er die Übergriffe auf die Rohingya in Myanmar oder die Destabilisierung der öffentlichen Ordnung durch WhatsApp in Teilen Indiens.
In diesem Buch sage ich, dass das, was plötzlich normal geworden ist – allgegenwärtige Überwachung und ständige, subtile Manipulation –, unmoralisch, grausam, gefährlich und unmenschlich ist.
Jaron Lanier
Nachdem Lanier die Mechanismen der Manipulationen und die Geschäftsmodelle der Bummer-Plattformen beschrieben hat, ruft er zum Boykott der sozialen Netzwerke auf. Wohlgemerkt, nicht das Internet an sich hält er für das Problem, sondern Social Media. Und der Widerstand soll nicht aus irgendwelchen Angriffen bestehen, sondern darin, dass wir einfach alle Nutzerkonten löschen und uns aus den Fängen der Manipulatoren befreien. Damit treffen wir die Imperien an ihrer empfindlichsten Stelle, nämlich beim Profit. Dies hält er als Insider für den besten Weg, sie zur Einsicht und zum Umdenken zu bewegen.