Für den Niedergang des Kommunismus in Osteuropa soll sie ebenso verantwortlich sein wie für den Verfall traditioneller Werte in China. Konzernmanagern treibt sie Freudentränen in die Augen und Subsistenzbauern treibt sie in den Ruin: die Globalisierung.
Wie lässt sich die Globalisierung beherrschen?
Anthony Giddens, ehemaliger Direktor der London School of Economics, hielt die Vortragsreihe, die in diesem Buch abgedruckt ist, im Jahr 1999. Die Stärke des Texts liegt in seiner Besonnenheit. Er ordnet die Auswirkungen der Globalisierung in historische Zusammenhänge ein und entwickelt Vorschläge, wie ihre Kräfte gezähmt und in überschaubare Bahnen gelenkt werden können. Viele Fragen, zum Beispiel die nach der Rolle der Entwicklungsländer in diesem Prozess, bleiben dabei jedoch unbeantwortet.
Ein Begriff erobert die Welt
Noch bis Ende der 1980er-Jahre war der Begriff der Globalisierung so gut wie unbekannt, doch schon weniger als zehn Jahre später wurde kaum ein Konzept kontroverser diskutiert. Giddens macht deutlich, warum das so ist: Für den New Yorker Investmentbanker bedeutet die Globalisierung etwas völlig anderes als für den Kaffeebauern in Mexiko. Der eine sieht vor allem, dass heute täglich Billionen Dollar auf dem weltweiten Kapitalmarkt umgesetzt werden; der andere muss mit einem Weltmarktpreis für Kaffee leben, der in wenigen Jahren auf ein Viertel des ursprünglichen Preises gesunken ist. Statistiken belegen, was Kritiker der Globalisierung anprangern: Das ärmste Fünftel der Weltbevölkerung hatte 1998 gerade noch einen Anteil von 1,4 Prozent am Welteinkommen, 0,9 Prozentpunkte weniger als 1989. Gleichzeitig stieg der Anteil des reichsten Fünftels – eine Entwicklung die sich bis heute fortgesetzt und noch verschärft hat.
Anstatt mit einer in zunehmendem Maße beherrschbaren Welt haben wir es mit einer jeglicher Kontrolle entzogenen, eben entfesselten Welt zu tun.Anthony Giddens
Wie so häufig fehlen in der Debatte über Fluch und Segen der Globalisierung jedoch die Grautöne – und für die macht der Autor sich stark. Das Problem sei nicht die Entwicklung als solche, sondern das Gefühl von Ohnmacht und Unterwerfung, das sie vielerorts ausgelöst habe. Sie habe Mächte entfesselt, über die wir die Kontrolle verloren hätten. Doch dieser Prozess ist laut Giddens nicht unaufhaltsam. Nötig sei eine grundlegende Reform unserer Institutionen. Damit meint er nicht nur Regierungsorgane und Wirtschaftssysteme, sondern auch unsere Vorstellungen von Nation, Familie, Arbeit, Tradition und Natur. Nur wenn wir diese an veränderte Bedingungen anpassten, könnten wir die Machtlosigkeit überwinden, die neuen Mächte einem kollektiven Willen unterwerfen und in ihre Schranken weisen.
Wie man Traditionen neu erfindet
Traditionen erfinden – ist das nicht ein Widerspruch in sich? Zeichnen sich Traditionen nicht gerade dadurch aus, dass sie althergebracht und unveränderlich sind? Für Anthony Giddens genügt ein Blick auf die traditionelle Schottentracht, um diese Argumentation zu widerlegen: Der kurze Schottenrock wurde im frühen 18. Jahrhundert von einem englischen Industriellen erfunden, der die herkömmlichen langen Kleider der Highlander so veränderte, dass eine praktische Arbeitskleidung daraus wurde. Viele Bräuche wurden irgendwann in der Geschichte einmal gezielt konstruiert, so Giddens.
Es ist ein Mythos, dass Traditionen unveränderlich seien.Anthony Giddens
Die Globalisierung stellt Traditionen radikal infrage. Viele nichtwestliche Gesellschaften werden enttraditionalisiert. Dieser Prozess endet oft in posttraditionalen Systemen, das heißt, Traditionen bleiben in nichttraditionellen Formen lebendig. Diese Entwicklung birgt laut Giddens auch Gefahren. Die schiere Möglichkeit selbstbestimmten Handelns führe bei manchen Menschen zu zwanghaftem Drang nach Freiheit und Individualität. Die Grundpfeiler der Tradition, Ritual und Wiederholung, würden durch die Sucht nach Drogen, Sex, Geld, Arbeit ersetzt.
Eine weitere Gefahr stellt für Giddens der Zusammenprall zwischen Kosmopolitismus und Fundamentalismus dar. Beide sind für ihn eine direkte Folge der Globalisierung. Der Fundamentalist verteidige die Tradition auf althergebrachte Weise, indem er auf die rituelle Wahrheit seines Bekenntnisses verweise und sich rationalen Begründungen verschließe. Fundamentalismus könne überall auf dem Nährboden erstarrter Traditionen wachsen. Es sei die Aufgabe der Kosmopoliten, ihm Werte wie Toleranz und Dialog entgegenzusetzen.
Die Familie mit neuem Leben füllen
Giddens widmet sich in Entfesselte Welt auch ausführlich dem Thema Familie. Kaum eine Institution habe sich im vergangenen Jahrhundert so radikal verändert wie die Familie. In traditionellen Gesellschaften war sie vor allem eine ökonomische Größe. Sexualität in der Ehe erfüllte einzig die Funktion der Fortpflanzung, und Vorstellungen über Liebe und Partnerschaft waren so gut wie unbekannt. Auch die Beziehung zu den Kindern war in erster Linie von wirtschaftlichen Erwartungen geprägt.
Dass die traditionelle Familie – oder Teile von ihr – in vielen Regionen der Welt weiter besteht, ist beunruhigender als ihr Niedergang.Anthony Giddens
Die Familie ist gemäß Giddens heute eine ausgehöhlte Institution. Von ihrem alten Kern sei nur noch wenig übrig. An die Stelle des Wirtschaftsbundes sei der Liebesbund getreten. Sexualität sei von der reinen Fortpflanzungsfunktion losgelöst worden. Steigende Scheidungsraten sollten nicht davon ablenken, dass an die Stelle der alten, ökonomisch definierten Beziehung die der emotional definierten Partnerschaft getreten ist. Sie beruht auf Offenheit, Vertrauen und Gleichberechtigung. Die Idee der „reinen Beziehung“ ist für Giddens keinesfalls ein Verlust, sondern ein großer Gewinn für unser Zusammenleben.
Wir müssen die Demokratie demokratisieren
In dieser neuen Art der Beziehung sieht der Autor überraschende Parallelen zur Demokratie. Auch in einer Demokratie seien im Prinzip alle gleich. Sie beruhe auf gegenseitiger Achtung, ersetze autoritäre Machtstrukturen durch Diskussionen und gerate in Gefahr, sobald Gewalt und Willkür ins Spiel kommen.
In den entwickelten Demokratien diagnostiziert der Autor das „Paradox der Demokratie“: Immer mehr Menschen in den westlichen Ländern hätten das Vertrauen in ihre Regierungen verloren. Sie glauben nicht mehr, dass diese die Kräfte der Globalisierung beeinflussen können. Junge Leute, die etwas verändern wollen, engagieren sich eher in „Special Interest Groups“ als in der Politik. Es ist für Giddens deshalb höchste Zeit, die Demokratie selbst zu demokratisieren. Dazu gehören für ihn Dezentralisierung, Bekämpfung der Korruption, aber auch der Aufbau einer starken Zivilkultur. Märkte allein vermögen das nicht.
Zwar werden wir wohl niemals die Herren der Geschichte sein, aber wir können und müssen Wege finden, unsere entfesselte Welt zu zähmen.Anthony Giddens
Der Autor fordert echte demokratische Institutionen auf globaler Ebene. Die Europäische Union weist für ihn als einziges funktionierendes Modell transnationalen Regierens den Weg – so unvollkommen sie auch noch immer sein mag. Die Antwort auf unsere entfesselte Welt sieht er nicht in weniger Steuerung, sondern in mehr. Aber eben: mehr demokratischer Steuerung. Nur wenn wir unsere Institutionen demokratisieren, so Giddens, kann diese Steuerung im Sinne eines kollektiven Willens gelingen.