Als ob wir mit der Klima-, der Energie- und der Coronakrise nicht schon genug um die Ohren hätten, befinden wir uns seit geraumer Zeit auch noch mitten in einer weltweiten Einsamkeitskrise. Dieser Auffassung ist zumindest Noreena Hertz. Doch spätestens nach der Lektüre ihres Buches kann man ihr eigentlich nur Recht geben. Die britische Ökonomin und Hochschullehrerin beleuchtet die Gründe der globalen Einsamkeit und zeigt, wie jeder einzelne dazu beitragen kann, dass aus dem Ich endlich wieder ein Wir wird.
Weniger Ich, mehr Wir
Die Einsamkeitskrise existiert nicht erst seit Corona
Einsamkeit macht krank. Ihre gesundheitsschädliche Wirkung entspricht statistisch gesehen in etwa der von 15 Zigaretten am Tag, so die Autorin. Daneben hat Einsamkeit auch besorgniserregende wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Konsequenzen, erklärt Hertz. Dabei geht ihre Definition von Einsamkeit weit über „allein sein“ hinaus. Einsamkeit umfasst für Noreena Hertz das Gefühl mangelnder Unterstützung durch Mitmenschen, Arbeitgeber, Gemeinden und die Politik. Auch wenn die Problematik an vielen Stellen durch die Coronapandemie erst so richtig zutage gefördert wurde, reichen ihre Ursachen weiter zurück – nämlich in die 1980er-Jahre, so Hertz. Als Anfang der Einsamkeitskrise benennt sie den Neoliberalismus, jene vor allem durch Ronald Reagan und Margaret Thatcher geprägte Ideologie der Freiheit und des zurückhaltenden Staates, die den Eigennutz über das Gemeinwohl stellt.
Doch Hertz macht den Neoliberalismus mitnichten allein für das Dilemma einer zunehmend ichbezogenen Gesellschaft verantwortlich, in der die Fähigkeit zur Empathie und das Vertrauen in die Politik zusehends degenerieren – was Hertz zufolge vor allem Rechtspopulisten wie Donald Trump, Jean-Marie Le Pen oder der AfD in die Hände spielt. Als weitere Auslöser bzw. Verstärker dieses Trends der Ichbezogenheit führt die Autorin etwa die Urbanisierung an. Je mehr Menschen uns umgeben, desto mehr ziehen wir uns zurück, erklärt Hertz. Das Stadtleben fördert ihrer Meinung nach Asozialität und verhindert zwischenmenschliche „Mikrointeraktionen“ wie etwa den Small Talk mit dem Barista.
Das schnelle Tempo des Stadtlebens macht uns nicht nur unsozial, es macht uns auch asozial.Noreena Hertz
All diese Dinge behauptet Noreena Hertz nicht einfach nur. Nahezu jede ihrer Aussagen untermauert sie mit wissenschaftlichen Studien oder vergleichbaren Quellen. Das verdeutlicht auch das Anmerkungsverzeichnis am Ende des Buches, das über hundert Seiten umfasst. Daneben wartet sie mit zahlreichen Anekdoten und Beispielen auf. Hier wäre weniger allerdings mehr gewesen – vor allem, weil sie auf bestimmte Protagonisten zig Kapitel später wieder zu sprechen kommt, was beim Lesen mitunter für Verwirrung sorgen kann.
Dennoch zieht einen Das Zeitalter der Einsamkeit in seinen Bann. Zwar dürften die einzelnen Faktoren, die Hertz anführt, dem Gros der Leser bekannt sein. Allerdings sorgt das Zusammenfügen der einzelnen Elemente zu einem umfassenden Bild der Einsamkeitskrise immer wieder für kleine oder größere Aha-Erlebnisse. Wer wäre zum Beispiel spontan darauf gekommen, dass sich bequeme Parkbänke, verkehrsberuhigte Straßen oder eine reduzierte Grundsteuer für Ladengeschäfte in Innenstädten positiv auf unsere Sozialbeziehungen auswirken können?
Die Digitalisierung ist (viel) Fluch und (ein bisschen) Segen zugleich
Weitaus weniger überraschend dürfte hingegen die Tatsache sein, dass Smartphones sowie Social-Media-Plattformen wesentlich zu der Einsamkeitskrise beitragen. Während sich Smartphones Hertz zufolge unter anderem negativ auf unsere Kommunikationsfähigkeit und Empathie auswirken, fördern Social-Media-Plattformen Mobbing, Rassismus und Homophobie und können insbesondere bei Kindern und Jugendlichen zu Ausgrenzung führen, so die Autorin. Neben den Nutzern selbst sieht Hertz auch die Betreiber der Plattformen sowie den Staat in der Pflicht, entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Als Möglichkeiten zählt sie unter anderem eine genauere Überprüfung und Regulierung von Inhalten sowie gezielte Aufklärungskampagnen auf.
Ein Bereich, den Noreena Hertz ebenfalls mit für die Einsamkeitskrise verantwortlich macht, ist die Arbeitswelt. Insbesondere Großraumbüros, digitale Kommunikation sowie die Automatisierung tragen ihrer Ansicht nach dazu bei, dass sich Arbeitnehmer immer mehr voneinander entfremden und einsam bzw. abgehängt fühlen. Weitere besorgniserregende Faktoren sind für Hertz immer längere Arbeitszeiten, die zunehmende Vermischung von Arbeits- und Privatleben sowie das Gefühl, ständig erreichbar sein zu müssen. Auch hier spricht sich die Autorin für mehr staatliche Regulierung aus. Exemplarisch führt sie das „Recht auf Abschalten“ an, das in Frankreich seit Anfang Januar 2017 existiert und es Arbeitgebern verbietet, von Mitarbeitenden nach Feierabend Erreichbarkeit zu erwarten.
Viele kommen abends, am Wochenende und sogar im Urlaub nicht von der Arbeit weg, und schuld daran ist wieder mal das Smartphone.Noreena Hertz
Obschon die Digitalisierung die Einsamkeitskrise deutlich verschärft hat, bietet sie auch mögliche Wege aus der Krise – etwa den Einsatz von sozialen „Roboterfreunden“. Allerdings könnte sich dadurch auch die Fähigkeit, mit anderen Menschen zu interagieren, deutlich verschlechtern, merkt Hertz kritisch an. Kritisch steht sie auch dem Trend gegenüber, die Einsamkeit zum Geschäftsmodell zu machen, wie es beispielsweise bei Co-Working- und Co-Living-Spaces der Fall ist. Hertz verwendet dafür den schönen Begriff „WeWashing“. Dieser bringt zum Ausdruck, was sich ihrer Meinung nach dahinter verbirgt: eine (meist kostspielige) Mogelpackung. Echte Gemeinschaft braucht laut Hertz weitaus mehr, nämlich „harte Arbeit“ in Form von andauernden Interaktionen, Solidarität und gegenseitiger Unterstützung.
Um die Krise zu überwinden, ist jeder gefragt
Nach einer größtenteils ernüchternden Bestandsaufnahme zeigt sich Noreena Hertz im letzten Kapitel des Buches dann eher versöhnlich und optimistisch. Ein wirtschaftlicher, politischer und sozialer Wandel ist für sie durchaus möglich. Dazu bedarf es jedoch eines neuen Kapitalismus, der Mitgefühl und Fürsorge in den Vordergrund rückt, so Hertz. Damit das gelingt, ist neben der Wirtschaft und der Politik auch jeder Einzelne gefragt.
Gemeinsam müssen wir eine kooperativere Form des Kapitalismus definieren und erschaffen, die nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale Bedingungen erfüllt.Noreena Hertz
Ob Hertz’ Gegenentwurf zum Neoliberalismus visionär oder blauäugig ist, muss der Leser am Ende selbst entscheiden. Fakt ist jedoch, dass wir alle dazu beitragen können, die Erde um eine Krise ärmer zu machen. Die alte Binsenweisheit „zusammen ist man weniger allein“ gilt in der heutigen, zutiefst zerfaserten Welt mehr denn je. Hertz’ Buch ist also in jedem Fall eines: lesenswert!