Wenn es um scheinbar aussichtslose Kämpfe zwischen zwei ungleichen Gegnern geht, kommt uns schnell die biblische Geschichte von David und Goliath in den Sinn. Der vermeintlich übermächtige Riese Goliath wird dabei vom schmächtigen Hirtenjungen David mithilfe einer Schleuder besiegt. Doch laut dem kanadischen Journalisten, Sachbuchautor und Unternehmensberater Malcolm Gladwell ist die geläufige Interpretation dieses Kampfes schlichtweg falsch. Er hat es sich deswegen auf die Fahne geschrieben, die Ereignisse endlich ins rechte Licht zu rücken.
Starke Schwächen – schwache Stärken
Underdogs sind erfolgreicher als gedacht
„Der Sieg eines Underdogs erscheint uns ausgesprochen unwahrscheinlich. Genau deshalb hat die Geschichte von David und Goliath die Menschen über Jahrtausende hinweg bewegt“, sagt Gladwell. Allerdings war David mitnichten ein so großer Underdog, wie gemeinhin angenommen wird. Zum einen kommt es laut Gladwell nicht zwingend auf Größe und Kraft an – nur weil jemand kleiner und schwächer ist, macht ihn das nicht automatisch unterlegen. Zum anderen verbergen sich hinter Eigenschaften, die wir bei Mächtigen schnell als Stärken wahrnehmen, oft Schwächen – im Falle von Goliath etwa sein schwerfälliger Bewegungsapparat, der Davids Schnelligkeit deutlich unterlegen war. Der Autor mutmaßt darüber hinaus, dass Goliath einen gutartigen Tumor an der Hirnanhangdrüse gehabt haben könnte. Dies würde sowohl seine außergewöhnliche Körpergröße erklären als auch den Verdacht nahelegen, dass sein Sehvermögen stark eingeschränkt war. Eine durchaus interessante Interpretation.
Die Starken und Mächtigen sind oft nicht das, was sie zu sein scheinen.Malcolm Gladwell
Die Geschichte zeigt, dass Siege von angeblichen Außenseitern beileibe nicht so selten sind, wie man annehmen könnte. So wurde rund ein Drittel aller Kriege in den letzten zwei Jahrhunderten von den schwächeren Parteien gewonnen. Das erklärt der Autor zu Beginn des ersten Buchteils, der den Titel „Die Stärken der Schwachen (und die Schwächen der Starken)“ trägt. Darin erzählt er unter anderem die Geschichte eines Basketballtrainers, der sein Team trotz physischer und spielerischer Defizite mit einer unkonventionellen, aber äußerst kräftezehrenden Strategie zum Erfolg führt. Viele Underdogs scheuen den Kraftaufwand, den solche Strategien mit sich bringen, so Gladwell. Darüber hinaus setzen wir aus Angst um unseren Ruf zu oft auf konventionelle Methoden.
Schwierigkeiten sind nicht immer schlecht
Die große Stärke des Autors ist sein ausgeprägtes erzählerisches Talent. Gladwell verpackt seine Kernbotschaften in unzähligen realen und lesenswerten Geschichten, deren Protagonisten sich beispielsweise aus einfachen Verhältnissen hocharbeiten, unkonventionelle Wege gehen oder mutmaßliche Defizite ins Gegenteil verkehren. Ein Beispiel ist David Boies, der es trotz – oder besser gesagt, wegen – seiner Legasthenie geschafft hat, einer der gefragtesten Strafverteidiger der Vereinigten Staaten zu werden. Oder der bekannte amerikanische Leukämiearzt Jay Freireich, der nur aufgrund seiner traumatischen Kindheit den Mut aufbrachte, seine umstrittene Forschungsarbeit bis zum erfolgreichen Ende durchzuziehen und auf die Meinungen seiner Mitmenschen zu pfeifen. Der zweite Teil des Buchs heißt deshalb folgerichtig „Die Theorie der wünschenswerten Schwierigkeiten“. Gladwell erklärt darin unter anderem, dass sich die durchschnittlichen Ergebnisse von schriftlichen Intelligenztests verbessern, wenn die Fragebögen nur mit Mühe zu entziffern sind. Der Grund: Weil man sich schon beim Lesen anstrengen muss, denkt man intensiver über die Frage nach. Schwierigkeiten können also auch wünschenswerte Effekte mit sich bringen. Zwar sitzen laut Gladwell überproportional viele Legastheniker im Gefängnis, aber auch auffallend viele erfolgreiche Unternehmer leiden an einer Lese- und Rechtschreibstörung, darunter Richard Branson, der Kinko-Gründer Paul Orfalea oder Cisco-CEO John Chambers.
Niemand würde seinem Kind Legasthenie wünschen. Oder vielleicht doch?Malcolm Gladwell
Am Beispiel der Bürgerrechtsproteste der Schwarzen in den Südstaaten der USA erläutert der Autor ein weiteres Mittel, das dabei helfen kann, vermeintlich übermächtige Gegner in die Knie zu zwingen: die Provokation. Für Martin Luther King und seinen Mitstreiter Wyatt Walker war es laut Gladwell durchaus legitim, gegen Regeln zu verstoßen, Anweisungen bewusst falsch zu verstehen und zu lügen bzw. zu tricksen – sie hatten sich eine Underdog-Mentalität angeeignet. Diese machten sie sich auch bei ihrer Volksgruppe zunutze, um eben mit unlauteren Mitteln in dem damaligen rassistischen Umfeld Fortschritte zu erzielen.
Zu viel Strafe ist kontraproduktiv
Im dritten und letzten Teil des Buchs geht es um „Die Grenzen der Macht“. Anhand des Bürgerkriegs in Nordirland und dem von Jugendkriminalität geprägten New Yorker Stadtteil Brownsville zeigt Gladwell, dass Gewalt nicht mit Gegengewalt bekämpft werden sollte. Deutlich effektiver sind stattdessen freundliche Gesten. In Brownsville etwa fuhren Polizisten Jugendliche zu Arztterminen, spendierten ihren Familien einen Truthahn zu Thanksgiving oder spielten mit ihnen Basketball, erzählt Gladwell. Infolgedessen fiel die Zahl der Raubüberfälle und Festnahmen drastisch ab.
Wären Sie nicht sprachlos, wenn die Polizeipräsidentin Ihrer Stadt verkündet, sie wolle die Kriminalität bekämpfen, indem sie die Verwandten der Kriminellen umarme und zum Essen einlade?Malcolm Gladwell
Zudem lohnt sich zu viel Strafe nicht, so die These des Autors. Er untermauert sie mit den Erfahrungen, die die kalifornische Stadt Fresno im Jahr 1994 mit der Einführung des „Three Strikes Law“ machte. Nach diesem Gesetz drohte nach der dritten Straftat – egal welcher Art – zwangsläufig eine Gefängnisstrafe. Zwar ging die Zahl schwerer Straftaten daraufhin um 40 Prozent zurück – wobei laut Gladwell umstritten ist, ob dies auf das Three Strikes Law zurückzuführen ist. Allerdings verdoppelte sich dadurch auch die Anzahl der Gefängnisinsassen. Gladwells Schlussfolgerung lautet: Wenn immer mehr Menschen im Gefängnis sitzen, ist irgendwann ein Punkt erreicht, an dem die negativen Effekte des harten Strafregimes die positiven überwiegen.
Trotz einiger durchaus interessanter Momente fehlt dem Abschlussteil jedoch leider so etwas wie ein roter Faden. Zudem wirkt er thematisch etwas deplatziert. Das trübt den positiven Gesamteindruck des Buchs aber nicht allzu sehr.
David und Goliath ist alles in allem eine umfangreiche und spannende Geschichtensammlung, die nicht nur über weite Strecken hinweg Spaß macht, sondern an vielen Stellen auch zum Nachdenken anregt. Die Erkenntnis, dass in augenscheinlichen Schwächen ungeahnte Stärken liegen können und somit in jedem von uns ein kleiner Held stecken kann, macht zudem Mut und lädt zur Selbstreflexion ein. Womöglich kann das Buch damit einen Teil dazu beitragen, den Blick auf bestimmte Dinge oder gar das ganze Leben grundlegend zu verändern. Einen Versuch ist es allemal wert.