Mächtig gelogen
Postfaktisch

Mächtig gelogen

Vincent F. Hendricks ist Professor für formale Philosophie an der Universität Kopenhagen. Mads Vestergaard ist Doktorand und Gründer der Nihilistischen Volkspartei, eines dänischen Kunst- und Satireprojekts. Postfaktisch ist ihr erstes gemeinsames Werk, das allerdings mit Satire rein gar nichts zu tun hat. Im Gegenteil …

Zugegeben, Donald Trump hat das Lügen nicht erfunden. Aber er hat es auf dem politischen Parkett vollends salonfähig gemacht. Die Washington Post zählte ganze 20 000 Unwahrheiten, die der US-Präsident im Zeitraum von Januar 2017 bis Juni 2020 nachweislich von sich gegeben hat. Auch wenn Hendricks und Vestergaard im ersten Satz des Vorworts betonen, das Buch handle nicht (nur) von Donald J. Trump, fällt es beim Lesen oft schwer, nicht an ihn zu denken. Denn spätestens seit Trumps Wahl zum US-Präsidenten gesellt sich zum Klimawandel und zum Terrorismus gemäß den Autoren noch eine weitere globale Herausforderung: die Verbreitung uns Instrumentalisierung von Fehlinformationen.

Wir bezahlen mit Aufmerksamkeit und wollen unterhalten werden

Das erste Kapitel von Postfaktisch beschäftigt sich mit der „Aufmerksamkeitsökonomie“. Demnach ist unsere Aufmerksamkeit ein knappes Gut, was sie zu einer begehrten Ressource für das Marketing macht. Laut Hendricks und Vestergaard keine neue Erkenntnis: Bereits vor rund 200 Jahren entdeckte ein Verleger namens Benjamin Day, dass sich mit frei erfundenen Nachrichten nicht nur hohe Auflagen, sondern auch entsprechende Werbeeinnahmen erzielen lassen. Somit handelt es sich bei Fake News & Co. mitnichten um Phänomene der Neuzeit. Allerdings hat das Thema dank Digitalisierung und Social Media heute eine völlig andere Qualität. In der Informationsgesellschaft, in der wir leben, ersticken wir laut Hendricks und Vestergaard fast an der Flut von Informationen, die auf uns hereinprasseln, was unsere Aufmerksamkeit noch begehrter macht. Erschwerend hinzu kommt das, was die Autoren eine „neue Medienlogik“ nennen. Ihnen zufolge nimmt die Bedeutung journalistischer Ideale immer mehr ab und der Stellenwert der reinen Unterhaltung sukzessive zu. Hendricks und Vestergaard veranschaulichen dies anhand von Trumps Wahlkampf 2016. In diesem musste der spätere Wahlgewinner nicht mehr tun als zu unterhalten. Brot und Spiele, wie im alten Rom.

 

Fehlinformation ist im digitalen Zeitalter den globalen Herausforderungen zuzurechnen.

Hendricks/Vestergaard

Als weiteren Trend, der mit der neuen Medienlogik einhergeht, nennen Hendricks und Vestergaard die „Medialisierung“. Darunter verstehen sie das Phänomen, dass sich gesellschaftliche und politische Institutionen in ihrem Tun immer stärker an den Prämissen dieser neuen Medienlogik orientieren. Hart formuliert: Was bringt es, Gutes zu tun, wenn am Ende des Tages niemand darüber berichtet? Die beiden Autoren sehen in medialisierter Politik ein Problem für die Verbesserung realer gesellschaftlicher Zustände, da diese Politik sich von eben diesen realen Zuständen entkoppelt.

Vieles von dem, was man in Postfaktisch liest, hätte man noch vor zehn Jahren wahlweise als Bericht aus einer düsteren Vergangenheit oder als Dystopie abgetan. Dass wir mittlerweile in dieser Dystopie angekommen sind, erschreckt bei der Lektüre immer wieder. Dennoch haben es sich Hendricks und Vestergaard offensichtlich auf die Fahne geschrieben, Optimismus zu verbreiten und Aufklärung zu betreiben. Das gelingt ihnen meist vorzüglich.

Der feine Unterschied: Fehlinformationen, Verzerrungen und Fake News

Zum Beispiel klären sie den Leser im vierten Kapitel auf, worin genau die Unterschiede zwischen Fehlinformationen, Verzerrungen und Fake News liegen. Fehlinformationen sind ihnen zufolge Mischprodukte aus angeblich wahren, zweifelhaften, nicht überprüfbaren oder nicht belegten und schließlich dezidiert falschen Informationen. Verzerrungen können laut Hendricks und Vestergaard auch ohne Fehlinformationen vermittelt werden, wenn medial ausschließlich ein Aspekt einer Angelegenheit beleuchtet wird oder wesentliche Punkte bewusst verschwiegen werden.

 

Richtet sich alle Aufmerksamkeit auf finstere Akteure, können die strukturellen Bedingungen übersehen werden, die Fehlinformation blühen lassen.

Hendricks/Vestergaard

Als Fake News definieren die Autoren fingierte Nachrichten, die den Anschein vermitteln wollen, journalistischer Wahrheitssuche verschrieben zu sein, obgleich sie in Wirklichkeit ökonomische oder politische Ziele verfolgen. Fake News werden gemäß Hendricks und Vestergaard entweder „zum Spaß“ oder aus monetären Gründen verbreitet. Zum Beispiel, um mittels Clickbaiting oder Native Advertising ans schnelle Geld zu kommen. Aber auch bewusste Irreführung oder Propaganda sind beliebte Beweggründe für die Verbreitung von Fake News.

Der ideale Untertan legt keinen Wert auf Wahrheit

Im fünften und vorletzten Kapitel mit dem Namen „Faktenresistenz, Populismus und Verschwörungstheorien“ widmen sich Hendricks und Vestergaard zunächst dem Thema kognitive Dissonanz. Darunter ist der unangenehme mentale Zustand gemeint, den Tatsachen hervorrufen, die der eigenen Überzeugung zuwiderlaufen. Um gar nicht erst in diese missliche Lage zu kommen, verfolgen Menschen gemäß den beiden Autoren unterschiedliche Strategien. Beispielsweise konsumieren sie nur Medien, die sie in ihrer Überzeugung bestärken. Dies führt wiederum zu einer immer stärkeren Faktenresistenz. Wer beispielsweise einmal versucht hat, einen Klimawandelleugner vom Gegenteil zu überzeugen, weiß, was die Autoren damit meinen.

Als Populismus bezeichnen Hendricks und Vestergaard die Strategie von Politikern, zu behaupten, sie allein repräsentierten den „wahren Willen des Volkes“, während alle anderen Verräter sind. Solche Narrative können schnell ins Konspirative umschlagen. Die Vorstellung von einer fremden Macht, die heimlich die Fäden zieht, ist dann nicht mehr allzu weit entfernt. All dies führt gemäß den Autoren zu einem zunehmenden Sinnverlust der politischen Debatten.

 

Populismus ist eine Strategie, in deren Zentrum das Motto ,Wir gegen die anderen‘ steht.

Hendricks/Vestergaard

Wenn aber Sachverhalte und Fakten nicht mehr die Grundlage politischer Debatten bilden, sondern instrumentalisiert und zu Mitteln im politischen Kampf degradiert werden, befindet sich eine Demokratie im postfaktischen Zustand, so die beiden Autoren. Sie warnen jedoch davor, diesen Zustand vorschnell auszurufen, da der Begriff der postfaktischen Demokratie einen Idealtypus beschreibt, während die Realität oft ein Mischprodukt ist. Hendricks und Vestergaard ermuntern ihre Leser, gefährliche Tendenzen wahrzunehmen und wachsam zu sein. Wenn Machthaber mit offensichtlichen Lügen davonkommen und dafür sogar noch bewundert werden, müssen sämtliche Alarmglocken läuten. Denn der ideale Untertan für ein totalitäres Regime ist laut Hendricks und Vestergaard derjenige, für den die Unterscheidung zwischen Wahr und Falsch keine Rolle mehr spielt.

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