Fritz Riemann war ein weltweit anerkannter Psychoanalytiker und Autor. Seine 1961 veröffentlichte Studie Grundformen der Angst ist ein Paradebeispiel dafür, dass auch Sachbücher das Zeug zum zeitlosen Klassiker haben können. Bis heute wurde es über 1 Million Mal verkauft.
Keine Angst vor der Angst!
Alle Ängste lassen sich auf vier Grundformen zurückführen
„Angst gehört unvermeidlich zu unserem Leben. In immer neuen Abwandlungen begleitet sie uns von der Geburt bis zum Tode“, heißt es zu Beginn der Einleitung. Zugegeben, es gibt positivere Eröffnungssätze von Büchern. Doch Angst ist per se nichts Schlimmes, sagt Riemann. Schließlich lässt das Meistern unserer Ängste uns reifen und uns weiterentwickeln. Eine These, die wahrscheinlich jeder bestätigen kann, der sich schon einmal erfolgreich einer Phobie gestellt hat. Angst kann zwar viele Gesichter haben, laut Riemann lassen sich aber alle Ängste auf vier Grundformen zurückführen, die er in seinem Buch anhand von vier Extrembeispielen ausführlich beschreibt. Diese Grundängste sind die Angst vor der Selbsthingabe, die Angst vor der Selbstwerdung, die Angst vor der Wandlung sowie die Angst vor der Notwendigkeit. Riemann veranschaulicht diese Ängste durch vier Kräfte im Sonnensystem: Eigendrehung, Umwälzung, Schwerkraft und Fliehkraft.
Schizoide Persönlichkeiten neigen zu Aggressionen, depressive zu Masochismus
Zunächst skizziert der Autor die schizoide Persönlichkeit. Diese hat den Impuls zur „Eigendrehung“ und ist durch die Angst vor der Hingabe geprägt, also der Angst vor Persönlichkeitsverlust oder Abhängigkeit. Das führt laut Riemann dazu, dass schizoide Menschen versuchen, möglichst keine Gefühle zuzulassen, und den Kontakt zu anderen meiden. Feste Bindungen sind nicht ihr Ding. Vielmehr tendieren sie zur Abspaltung von Sexualität und Gefühlen und neigen oft zu Sadismus und Aggressionen. Riemann führt dieses Verhalten auf zu wenig oder zu viel körperliche Nähe im Kleinkindalter zurück, etwa durch lieblose oder überpräsente Mütter. Doch auch schizoide Persönlichkeiten haben ihre Stärken. So sind sie Riemann zufolge selbstständig und unabhängig. Zudem verfügen sie über eine gute Beobachtungsgabe.
Als Schutz gegen seine Angst vor der Nähe versucht der schizoide Mensch die größtmögliche Unabhängigkeit zu erreichen.Fritz Riemann
Depressive Menschen sind laut Riemann geradezu süchtig nach Nähe und Zuneigung und somit das genaue Gegenteil schizoider Persönlichkeiten. Wesentlich für ihr Verhalten ist die Angst vor der Selbstwerdung. Diese äußert sich extrem, sodass jede Form von Eigendrehung – wie sie für die schizoiden Persönlichkeiten typisch ist – in einer tiefen Angst vor Vereinsamung oder mangelnder Geborgenheit resultiert. Riemann beschreibt Menschen mit depressiven Persönlichkeitsstrukturen als bescheiden, selbstlos und loyal, aber auch als masochistisch veranlagt und selbstzerstörerisch. Um ihr Gegenüber an sich zu binden, verhalten sie sich wahlweise hilfsbedürftig oder bemutternd – teilweise bis hin zur Selbstaufgabe. Die Ursache für depressive Persönlichkeitsstrukturen sind für Riemann zwei Verhaltensweisen von Müttern: übermäßige Verwöhnung des Kindes und die Versagung liebevoller Zuwendung.
Zwanghafte Menschen scheuen die Veränderung, hysterische lieben sie
Die dritte dargestellte Persönlichkeit ist der zwanghafte Mensch. Seine Angst vergleicht Riemann mit der Schwerkraft. Dieser Mensch ist geprägt von der Angst vor der Wandlung und vor Vergänglichkeit, weshalb er an allem Bestehenden festhalten möchte und nach Unveränderlichkeit und Verlässlichkeit strebt. Riemann führt hierfür ein anschauliches Beispiel an: „Manche Menschen mit zwanghaften Zügen haben volle Kleiderschränke, tragen aber immer nur die alten Sachen, um ‚Reserven‘ zu haben; das Herz tut ihnen weh, wenn sie etwas Neues benutzen sollen (…)“. In Beziehungsfragen brauchen sie lange, um sich zu entscheiden – aber wenn sie sich entschieden haben, bleiben sie dabei. Sie schätzen Regeln und Pflichten in Beziehungen, sind allerdings auch anfällig für Machtkämpfe. Zwanghafte Persönlichkeiten neigen, so Riemann, schon im Kindesalter zum Grübeln. Eindrücke hallen bei ihnen oft lange nach. Sie sind zu sehr daran gehindert worden, impulsiv zu sein oder sich aufzulehnen, und tendieren infolgedessen zu Konservatismus, Fanatismus und Zwangshandlungen – in besonders schlimmen Fällen auch zu Pedanterie, Militarismus oder Verschlagenheit. Riemann sieht in ihnen sogar potenzielle Amokläufer. Im Arbeitsleben sind sie seiner Meinung nach häufig in Positionen zu finden, die mit Macht oder Genauigkeit verbunden sind.
Die Aggression der Zwanghaften dient der Macht, und die Macht dient wieder der Aggression.Fritz Riemann
Last, but not least porträtiert Riemann die hysterische Persönlichkeit. Hysteriker empfinden Angst vor dem Notwendigen. Sie fürchten das Endgültige sowie den Verlust ihrer Freiheit und sind sprunghaft, impulsgetrieben, unzuverlässig und narzisstisch – und stehen dementsprechend ganz im Zeichen der Fliehkraft. Hysterische Menschen, so Riemann, legen nicht nur großen Wert auf Status und Äußerlichkeiten, sie sind auch stets auf der Suche nach Neuem und geben sich der Illusion ewiger Jugend hin. Hysterische Strukturen sind dem Autor zufolge durch das Fehlen von verlässlichen und konsequenten Vorbildern begründet – etwa wenn Erziehungsaufgaben in besser betuchten Familien vom Personal übernommen werden. Oder wenn die Eltern dem Kind vertauschte Geschlechterrollen vorleben, indem der Vater etwa zum unfreiwilligen „Pantoffelheld“ wird.
Gegensätze ziehen sich an
Die Beschreibung der diversen Extrembeispiele von Persönlichkeitstypen lässt den Leser teilweise schwer schlucken. Dennoch versteht es Riemann, die Sachverhalte stets unterhaltsam und für Laien verständlich darzustellen. Dies ist vor allem seinem unaufgeregten und anschaulichen Schreibstil geschuldet – selbst wenn man einigen Formulierungen anmerkt, dass sie vor 60 Jahren zu Papier gebracht wurden. Auch Riemanns Auffassung der Geschlechterstereotypen wirkt aus heutiger Sicht etwas angestaubt: So wird die schizoide Persönlichkeit vermehrt an männlichen Beispielen durchexerziert, wohingegen für die Beschreibung der depressiven Persönlichkeit eher weibliche Beispiele zum Einsatz kommen.
Grundsätzlich ist man während der Lektüre immer wieder geneigt, die eigene Persönlichkeit mit den dargestellten Extremen abzugleichen oder aber andere, reale oder fiktive Beispiele zu finden, die den dargestellten Menschen möglichst ähnlich sind. So könnte einem bei der Beschreibung zwanghafter Menschen etwa der Protagonist der Fernsehserie Monk in den Sinn kommen, während man bei der hysterischen Persönlichkeit vielleicht an die Kardashian-Schwestern denken muss. Selbst wenn der Gedanke schwerfällt, dass Monk eine Beziehung mit Kim Kardashian eingehen könnte, vertritt Riemann dennoch die These, dass gegensätzliche Persönlichkeiten sich anziehen – also schizoide und depressive Persönlichkeiten bzw. zwanghafte und hysterische. Durch die Wahl des jeweiligen Gegentyps als Partner versuchen die Menschen Riemann zufolge „Ganzheit“ zu erlangen. Sie sehen in ihm Charaktereigenschaften verkörpert, die sie vielleicht immer unterdrückt haben.
Jedenfalls kann in der antinomischen Anziehung der Gegentypen eine Chance für eine solche Ergänzung liegen. Aber nur, wenn wir bereit sind, das Anderssein des anderen anzunehmen (…).Fritz Riemann
Glücklicherweise kommen die vier dargestellten Typen selten in Reinform vor. So mutmaßt Riemann in seiner Schlussbetrachtung: „Der Leser wird vielleicht enttäuscht sein, wenn er bei dem Versuch, sich selbst in einer der beschriebenen vier Persönlichkeitsstrukturen wiederzuerkennen, zu keiner eindeutigen Zuordnung gelangt, sondern wahrscheinlich von allem etwas in sich entdeckt, wie auch von jeder der Grundängste“. Der Großteil der Leserschaft dürfte jedoch eher beruhigt denn enttäuscht darüber sein. Riemanns Buch liefert nicht nur ein leicht verständliches psychologisches Ordnungssystem, sondern hilft auch dabei, die Mitmenschen besser zu verstehen und sie so anzunehmen, wie sie sind.