Wer eine Entscheidung fällt, denkt dabei an den eigenen Gewinn, an den der Menschen in seinem Umfeld oder an den des Planeten. Je nach ethischem Reifegrad. Welche Abstufungen es hier gibt, zeigt Mathias Schüz, Professor für Responsible Leadership, in seinem Buch Angewandte Unternehmensethik.
Ethische Hilfestellungen bei schwierigen Entscheidungen
Rein am eigenen Gewinn orientiertes Denken zerstört unsere Lebensgrundlage. Um das zu illustrieren, zitiert Schüz einen Text des Ökologen Gerrit Hardin zur „Tragödie der Allmende“. Darin geht es um Hirten, die jeweils nur an ihre eigene Herde denken und damit die Allmende, die Gemeinschaftsweide, auslaugen. Am Ende verhungern alle.
In Anlehnung an die Systemtheorie leitet Schüz daraus drei Prinzipien für Unternehmen ab:
- Selbsterhalt bedeutet, dass sich das System so definiert und organisiert, dass es für Generationen Bestand hat. Für Unternehmen heißt das: Die Bilanz muss zumindest ausgeglichen sein.
- Miterhalt bedeutet, dass das System mit anderen kooperiert, dass das Unternehmen also fair mit seinen Stakeholdern umgeht.
- Gesamterhalt bedeutet: Ändern sich die äußeren Bedingungen, passt sich das System an und ordnet sich in ein größeres Ganzes ein. Das Unternehmen handelt dann auch ökologisch und erhält seine natürlichen Ressourcen.
Der Autor verdeutlicht diese Stufen anhand des Beispiels einer Kassiererin im Supermarkt, die 20 Euro zu viel herausgibt. Wer das Geld einsteckt, handelt im Eigeninteresse und steht auf der „vorkonventionellen“ Stufe der moralischen Entwicklung, der des Selbsterhalts. Wer die 20 Euro zurückgibt, weil die Kassiererin so nett ist, handelt reziprok und steht auf der „konventionellen“ Stufe des Miterhalts. Wer das Geld dagegen aus grundsätzlicher Ehrlichkeit zurückgibt, handelt nach universellen Prinzipien und hat die „postkonventionelle“ Stufe des Gesamterhalts erreicht.
Unternehmen müssen auch künftige Generationen einbeziehen
Im nächsten Schritt bezieht Schüz auch die zeitliche Dimension ein: Wir sind auch für das verantwortlich, was wir in der Vergangenheit getan oder nicht getan haben, und für die Folgen gegenwärtiger Entscheidungen. Für Unternehmen leitet er vier praktische Fragen ab, die vor jeder Entscheidung zu stellen sind:
- Bringt unser Handeln ökonomischen Nutzen?
- Ist es sozial akzeptabel?
- Handeln wir ökologisch sinnvoll?
- Verträgt sich unser Handeln mit den Interessen künftiger Generationen?
Verantwortungsvolle Firmenpolitik wägt nach Nützlichkeits-, Pflichten- und Tugendethik ab
Was ist ethisch verantwortungsvolle Firmenpolitik? Der Autor vergleicht zunächst die drei traditionellen Ansätze:
- In der Nützlichkeitsethik ist eine Handlung gut, wenn sie mehr nützt als schadet. So wie etwa das Risikomanagement den monetären Nutzen und Schaden für jeden Stakeholder abwägt. Überwiegt der Nutzen, ist die Handlung ethisch in Ordnung. Die Schwäche dieses Ansatzes: Nicht jeder Schaden lässt sich in Geld beziffern.
- Die Pflichtenethik legt Regeln fest, was getan oder unterlassen werden soll. Zu ihr gehören die Goldene Regel der Religionen und Kants kategorischer Imperativ. Im Unternehmen sind gemäß dieser Ethik etwa Kinderarbeit oder heimliches Data-Mining tabu. Doch leider: Bei entsprechendem Druck geht die Pflichtenethik leicht über Bord.
- Die Tugendethik will gutes Verhalten trainieren. Tugenden sind menschliche Eigenschaften. Bereits Aristoteles suchte die „goldene Mitte“ zwischen deren Extremausprägungen. So liegt Aufrichtigkeit etwa zwischen Verlogenheit und Wahrheitsfanatismus.
Das Prinzip der Doppelwirkung hilft bei der Lösung ethischer Dilemmas
Schüz zeigt, dass die drei Ansätze bei konkreten Problemen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Er bringt das Beispiel einer führerlosen Straßenbahn, die auf fünf Menschen zurast. Man könnte deren Tod verhindern, indem man die Bahn auf ein anderes Gleis umleitet. Dabei würde jedoch eine andere Person sterben. Ist es erlaubt, verboten oder sogar Pflicht, die Weiche umzustellen? Ein Nützlichkeitsethiker opfert den einen für die fünf. Ein Pflichtenethiker lehnt das ab, weil es dem Kant’schen Imperativ widerspricht. Ein Tugendethiker hält sich zurück, um keine Schuld auf sich zu laden.
In einer Variante dieses Dilemmas steht man auf einer Brücke über den Gleisen. Man kann den Tod der fünf Menschen verhindern, indem man einen dicken Mann herunterstößt, der ebenfalls auf der Brücke steht. Weichen umstellen oder Mann von der Brücke stoßen? Nach einer Umfrage der Harvard University würden 85 Prozent die Weichen umstellen. Das Ergebnis ist aber in beiden Fällen das gleiche: Ein Mensch stirbt. Warum das eine akzeptiert wird, das andere aber nicht, erklärt das „Prinzip der Doppelwirkung“: Demnach darf man in Notwehr sogar töten, um sich selbst oder andere zu retten, vorausgesetzt, man beabsichtigt erstens nur die gute Hauptwirkung und nicht die schlechte Nebenwirkung und wendet zweitens keine üblen Mittel an. Den dicken Mann aktiv zu töten wäre ein übles Mittel, auch wenn es die fünf anderen rettet. Ihn von der Brücke zu stoßen ist damit unethisch.
Solche Dilemmas sind keineswegs abstrakt, sondern sehr aktuell: Wen soll eine KI bei einem Unfall mit einem selbstfahrenden Auto opfern, ein Kind oder einen alten Menschen? Oder: Soll in einer Pandemie für die Herdenimmunität der Mehrheit der Tod einer Minderheit in Kauf genommen werden?
Neuere Ansätze beziehen auch künftige Generationen, andere Lebewesen und das menschliche Unbewusste ein
Die drei traditionellen Ethikansätze helfen wenig bei Entscheidungen etwa zum Klimawandel. Schüz stellt darum drei neuere Ansätze vor:
- Die intergenerative Ethik des Philosophen Hans Jonas will auch kommende Generationen schützen. Dieter Birnbacher entwickelte sie zur utilitaristischen Zukunftsethik weiter. Unternehmen müssen demnach Menschen und höhere Tiere erhalten und unumkehrbare Risiken bedenken. Entsprechende Praxisnormen sind in den nachhaltigen Entwicklungszielen der UN integriert.
- Die biozentrische Ethik nach Friedensnobelpreisträger Albert Schweitzer fordert, die Würde aller Lebewesen zu respektieren. Übersetzt auf den Unternehmensalltag heißt es, auch Folgen und Nebenfolgen für alle Lebewesen abzuwägen.
- Die Tiefenethik berücksichtigt Triebe und unbewusste Wünsche. Tauschgerechtigkeit etwa scheitert an der menschlichen Gier – sie lässt sich mit Achtsamkeit überwinden.
Für den Autor verlangt ethisches Handeln also, jede einzelne Entscheidung nach den unterschiedlichen Ansätzen abzuwägen. In Unternehmen braucht es dafür Führungskräfte mit Fach- und hoher Sozialkompetenz, einem Blick für das große Ganze und Respekt vor künftigen Generationen. Der Aufwand ist hoch – das Ziel jedoch ohne Alternative.