Wir sollten unsere Verwertung und Entmenschlichung durch Silicon-Valley-Firmen beenden. Ein Philosoph wirkt als Mahner und Augenöffner.
Ein Gegenentwurf zur Raubtier-Digitalisierung
Maschinengerecht optimierte Menschen
Welche Verluste fügt der technische Fortschritt der menschlichen Seele zu? Robert Musil stellte diese Frage vor etwa 90 Jahren nach der Einführung der Massenproduktion. Richard David Precht stellt sie nun erneut anlässlich der vierten industriellen Revolution. Die digitale Revolution vernichtet Millionen Arbeitsplätze und es ist ungewiss, wie viele neu geschaffen werden. Obendrein gefährdet sie unsere kulturelle Vielfalt, indem sie quasi eine Einheitszivilisation schafft.
Der Wandel ist disruptiv. Bestehende Technologien werden nicht verbessert, sondern im Plattform-Kapitalismus kurzerhand ersetzt. Uber ersetzt Taxis. Airbnb ersetzt Hotels. Selbstfahrende Autos ersetzen konventionelle Höchstleistungsfahrzeuge. 3D-Drucker ersetzen Teile der herkömmlichen Produktion. Der dank Blockchains immer direktere Zahlungsverkehr macht vermittelnde Dienstleister wie Banken überflüssig. Es geht um Effizienzsteigerungen – und Gier. Das Effizienzdenken folgt gemäß Precht einer unerbittlichen, immer gnadenloseren Verwertungslogik. Und nun, so tönt es aus dem Silicon Valley, soll auch der Mensch optimiert werden – mit Chip im Gehirn und computergerechtem Verhalten.
Humanismus als Opfer auf dem Altar der Digitalisierung
Das alles kann einem Philosophen wie Precht nicht gefallen. Denn bei diesen Entwicklungen geht es nicht um humanistische Werte wie Gerechtigkeit, Einsicht, Rücksicht, Bescheidenheit und Friedfertigkeit. Es geht nicht um moralische Aspekte, bei denen wir zweifellos Defizite aufweisen, sondern um knallharte Geschäftsmodelle. Für die Profite einiger mächtiger Firmen soll der Mensch effizienter und maschinenähnlicher werden, und das bedeutet zwangsläufig: weniger human.
Wer sagt eigentlich, dass das Optimum stets in einer Zeitersparnis liegt und in kurzen, unverstellten Wegen? Und werden wir umso individueller, je mehr wir uns der Technik ausliefern? Wer stellt solche Gleichungen auf und zu welchem Zweck?
Richard David Precht
Das Effizienzdenken ist keineswegs Bestandteil der menschlichen Natur. Im Mittelalter sorgten Zünfte für ein statisches Ordnungssystem, das kaum Veränderungen zuließ. Profitgier war keine Tugend. Noch heute ist das Streben nach Geldvermehrung manchen Kulturen fremd. Nicht hingegen dem Kapitalismus mit seinen Wurzeln in der Renaissance. Er nahm seinen Anfang im 14. und 15. Jahrhundert bei italienischen Kaufleuten, die das Kosten-Nutzen-Denken zur Leitkultur erhoben und das Kreditwesen schufen.
Später machte die Massenproduktion Effizienz und Effektivität zu Idealen. Alles muss optimiert werden – nun sogar der Mensch. Die großen Digitalunternehmen entscheiden, wie der Mensch besser, smarter und glücklicher wird. Dabei schränken sie unsere Freiheit ein, plündern unsere Daten, missachten unsere Privatsphäre und setzen uns einer permanenten Überwachung aus. Google, Facebook, Amazon und Apple sind die eigentlichen Supermächte. Sie verändern unsere Leben radikal. Müssen wir uns das gefallen lassen?
Die Utopie eines Lebens ohne Lohnarbeit
Vor diesem Hintergrund entwirft Precht seine „Utopie für die digitale Gesellschaft“. Das Ende der Arbeit, wie wir sie kennen, muss kein Verlust sein. Die Leistungsgesellschaft ist von Menschen erfunden worden, also kann sie auch von Menschen überwunden werden. Wir müssen zudem keinen neuen Menschen schaffen, wie es bereits der Stalinismus und der Maoismus versuchten. Stattdessen schlägt Precht ein Leben ohne Lohnarbeit vor, finanziert durch ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE).
Befreit von der „Lohnarbeitsidentität“ und vom Zwang zum Broterwerb ist ein humaneres Leben möglich. Die Menschen müssen sich dann nicht mehr ausbeuten lassen, wie es heute immer häufiger in befristeten, schlecht bezahlten und sozial nicht abgesicherten Jobs geschieht, die zudem das Selbstwertgefühl der Menschen beschädigen. Ihren Lebensunterhalt kann das BGE sichern, das schon heute sogar in der Wirtschaft viele Fürsprecher findet. Denn selbstverständlich will niemand eine kollektive Verarmung und die damit verbundenen Konflikte. Offen ist allerdings die Höhe des BGE. Der Drogerieunternehmer Götz Werner, schon lange ein Befürworter der Idee, fordert ein BGE von 1000 Euro, bei gleichzeitigem Wegfall aller anderen Sozialleistungen. Precht schlägt mindestens 1500 Euro pro Monat vor. Finanziert werden soll das BGE zum einen durch den Wegfall der Sozialbürokratie, zum anderen durch eine grundlegende Umgestaltung des Steuersystems. Nicht Einkommen sollten besteuert werden, sondern Konsum, Ressourcenverbrauch, Umweltbelastungen, der Besitz von Grund und Boden sowie Finanztransaktionen. In der Schweiz etwa könnte eine Steuer in Höhe von 0,05 Prozent pro Transaktion jedem Schweizer ein monatliches Einkommen von 2500 Franken bescheren.
Wir müssen selbst bestimmen, wie wir leben wollen
Zugleich muss die Macht der alles beherrschenden Internetunternehmen beschränkt werden. Menschliches Leben darf nicht auf Effizienzsteigerung getrimmt werden, denn dann wäre der perfekte Zustand der Tod: absolut störungsfrei bei null Energieverbrauch. Ein lebenswertes Dasein im humanistischen Sinn darf schon etwas mehr sein. Dazu gehört die Autonomie des Einzelnen als höchstes Gut, Selbstbestimmung und der konsequente Schutz der Privatsphäre. Sichergestellt werden muss eine kommerzfreie Grundversorgung mit digitalen Diensten wie Suchmaschinen, E-Mail, Sprachassistenten und sozialen Netzen. Der Einsatz von künstlicher Intelligenz muss nach ethischen Grundsätzen reguliert werden.
Die Zukunft kommt nicht – die Zukunft wird von uns gemacht. Und die Frage ist nicht: Wie werden wir leben? Sondern: Wie wollen wir leben?
Richard David Precht
Die Zukunft kommt nicht einfach über uns – sie wird von uns zumindest mitgestaltet, wie Precht betont. Wenn wir also eine Welt wünschen, in der Menschen nicht maschinenähnlicher, sondern menschlicher werden, dann dürfen wir Milliardären aus dem Silicon Valley nicht die Deutungshoheit und das Feld überlassen. Dann müssen wir unsere eigenen Vorstellungen durchsetzen. Wir müssen wissen, wie wir leben wollen – aber vor allem auch, wie wir auf keinen Fall leben wollen. Richard David Precht hilft uns, Zusammenhänge und Gefahren besser zu erkennen, Alternativen zu entwickeln, unsere eigenen Ziele zu definieren und uns auf den Weg zu machen.