Was, wenn Trumps Wahlsieg 2016 kein Versehen war? Der Senkrechtstarter des amerikanischen Politikjournalismus Ezra Klein legt eine kluge und kenntnisreiche Analyse der US-amerikanischen Politik vor, die das Zeug zum Klassiker hat.
Die Krankheit, deren Symptom Donald Trump ist
Die Überraschung, die keine war
Fast niemand hatte ernsthaft damit gerechnet: Der Sieg Donald Trumps bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen von 2016 machte Liberale in aller Welt fassungslos. Was aber nun, so Ezra Kleins zentrale Frage, wenn die Wahlen 2016 eben gerade nicht außergewöhnlich waren, sondern das einzig Überraschende darin bestand, dass mit Trump eine derart exzentrische Figur gewählt wurde. Die Ergebnisse der Wahl unterscheiden sich in der Tat kaum von denen der Jahre zuvor. Die meisten Leute wählten auch 2016 dieselbe Partei, die sie auch schon die Jahre davor gewählt hatten. Die parteipolitischen Identitäten in den USA sind so ausgeprägt, dass es kaum noch Wechselwähler gibt. Das allseits als dramatische Spaltung wahrgenommene politische Klima in den USA beschreibt und analysiert der Blogger, Medienunternehmer und Senkrechtstarter des amerikanischen Politikjournalismus klug und kenntnisreich mit vielen empirischen Daten, hochinteressanten historischen Rückblicken und vielen überraschenden Thesen.
Wie die Demokraten Antirassisten wurden
Eine zentrale Ursache für die Polarisierung in den USA sieht Klein in der Verabschiedung des Civil Rights Act 1964. Bis dahin hatten die Menschen in den Südstaaten zuverlässig die Demokraten gewählt, die Partei des kleinen (weißen) Mannes. Der unmoralische Deal zwischen der Demokratischen Partei und dem Rassismus der Südstaaten sicherte Wahlsiege und ermöglichte eine Politik der Umverteilung von Nord nach Süd und von (weißen) Reichen zu (weißen) Armen. Der Preis dafür war, dass der gesetzlichen Diskriminierung und dem rassistischen Terror im Süden nicht ernsthaft begegnet wurde. Mit der Verabschiedung des Civil Rights Act aber kündigten die Demokraten diese Allianz auf und verbündeten sich mit der Bürgerrechtsbewegung – selbstverständlich nicht aus reinem Idealismus, sondern weil die afroamerikanische Bevölkerung eine immer wichtigere Wählerschicht wurde.
Wenn man Privilegien gewohnt ist, fühlt sich Gleichbehandlung wie Unterdrückung an.Ezra Klein
Die Republikaner entwickelten sich fortan mehr und mehr zur Partei konservativer, christlicher und weißer Landbewohner, während die Demokraten die liberalen, multi-ethnischen, areligiösen, urbanen Milieus repräsentierten. Und da die Demokraten unter Druck stehen, den unterschiedlichen Interessen und Haltungen ihrer im Vergleich zur Grand Old Party sehr diversen Wählerschaft gerecht zu werden, sind sie relativ immun gegen radikale Tendenzen und haben eine innerparteiliche Kompromisskultur ausgebildet.
Trumps Erfolgsrezept
Klein erklärt die enorme Radikalisierung der amerikanischen Konservativen als Reaktion auf eine durchaus reale Bedrohung: die Erosion der weißen, christlichen und nicht zuletzt männlichen Vormachtstellung. In wenigen Jahrzehnten schon werden die jetzigen ethnischen Minderheiten die Mehrheit stellen. 2013 wurden erstmals mehr nichtweiße als weiße Kinder geboren. 2018 gab es erstmals mehr nichtreligiöse Menschen als Katholiken und Protestanten zusammengenommen. Und die Kandidatur Hillary Clintons als erster Frau in der US-Geschichte war mehr als ein symbolisches Menetekel: Mit 56 Prozent stellen heute schon die Frauen die Mehrheit der amerikanischen Studierenden. Diese Verschiebungen lassen die zuvor dominanten Gruppen um ihren Einfluss fürchten. Ihre Ängste liegen laut Klein den großen politischen Gegenwartskonflikten zugrunde: Obamas wie Trumps Präsidentschaft, die Debatten um Political Correctness und Identitätspolitik oder Bewegungen wie MeToo und Black Lives Matter. Trump ist deshalb so erfolgreich, weil er die konservative Angst präzise anzusprechen versteht und die „weiße Identität“ in den Mittelpunkt seines Wahlkampfs stellte.
Politische Korrektheit: Worum es wirklich geht
Kleins Analysen helfen durchaus auch, die Gemengelage hierzulande zu verstehen. Hüben wie drüben etwa polarisieren Debatten um Sprechweisen, Safe Spaces oder Gendertoiletten die Gesellschaft, und diesseits wie jenseits des Atlantiks berufen sich Konservative zu diesen Themen allen Ernstes auf das Prinzip der Meinungsfreiheit. Allerdings gab es auch schon in der Vergangenheit Regeln zum zivilisierten Umgang miteinander, nur eben andere. Es geht also gar nicht um die Regeln selbst, so Kleins Fazit, sondern um die Frage, wer sie bestimmt und wer die Macht hat, sie durchzusetzen. Damit ist nun eine Kernfrage des menschlichen Zusammenlebens berührt.
Man sprach nicht von Identitätspolitik, als alle Kabinettsmitglieder in allen Regierungen noch weiße Männer waren.
Ezra Klein
Zur Polarisierung trägt laut Klein aber auch die Tatsache bei, dass politische und kulturelle Macht nicht in eins fallen. Das Phänomen lässt sich nicht nur in den USA beobachten, ist dort aber besonders ausgeprägt. Weil das amerikanische Wahlsystem die Stimmen weißer, christlicher Landbewohner übermäßig gewichtet, läuft die politische Macht der demografischen Entwicklung sozusagen hinterher. Umgekehrt ist die kulturelle Machtverteilung der politischen zehn Jahre voraus: Popkultur, Konsumindustrie und Medien zielen auf die jungen, urbanen, multiethnischen und progressiven Milieus. Während diese also ihre Macht nicht in Politik umsetzen können, fühlt sich die politisch mächtige Rechte kulturell abgehängt.
Amerika demokratisieren!
Die Polarisierung selbst aber, so das abschließende Fazit des Autors, ist gar nicht das Problem, sondern die von ihr ausgehenden Gefahren für die Demokratie. Deshalb muss es darum gehen, das politische System so umzubauen, dass es trotz Polarisierung stabil bleibt. Der Autor fordert eine „Demokratisierung“ der USA: So müssten Washington D. C. und Puerto Rico endlich im Kongress repräsentiert und umständliche Verfahren der Wählerregistrierung sowie der ungerechte Zuschnitt der Wahlbezirke abgeschafft werden.
Ezra Kleins Buch sticht heraus aus der Vielzahl von Publikationen, die das Phänomen Trump zu ergründen suchen. Im Bereich politische Analyse der westlichen Demokratien im frühen 21. Jahrhundert hat es das Zeug zum Klassiker.