Unbegrenzter Urlaub, keine Spesenrichtlinien sowie Gehälter, die weit über dem Durchschnitt liegen – klingt zu schön, um wahr zu sein. Doch genau das erwartet die Mitarbeiter bei Netflix. CEO Reed Hastings erklärt gemeinsam mit Co-Autorin Erin Meyer, wie die Netflix-Kultur zustande kam und weshalb sie wesentlich zur Erfolgsgeschichte des Unternehmens beitrug.
Der Netflix-Weg: Ohne Regeln zum Erfolg
Der Dreiklang zum Erfolg
Der Aufstieg von Reed Hastings zum Multimilliardär begann mit einer nicht rechtzeitig zurückgegebenen VHS-Kassette. Der fällige Säumniszuschlag brachte ihn 1997 auf die Idee, Filme bequem und „straffrei“ auf dem Postweg zu verleihen. Vier Jahre später zählte das auf den Namen „Netflix“ getaufte Unternehmen bereits über 400 000 Abonnenten und 120 Mitarbeiter. Alles hätte so schön sein können, wäre nicht kurz darauf die Dotcomblase geplatzt. Durch die Wirtschaftskrise sah sich Hastings gezwungen, ein Drittel der Belegschaft auf die Straße zu setzen. Für den Netflix-Gründer ein einschneidendes Ereignis, auf dem eines der drei wesentlichen Elemente der heutigen Unternehmenskultur beruht: die Erhöhung der Talentdichte.
Hastings zufolge nahm durch die Entlassung von weniger talentierten Angestellten die Talentdichte zu, wodurch das Team trotz reduzierter Mitarbeiterzahl leistungsfähiger und schneller wurde. Nach Meinung der beiden Autoren, die sich auch auf eine australische Studie stützt, spornen sich leistungsstarke Kollegen gegenseitig zu noch besseren Ergebnissen an, während bereits ein einziger Low Performer in einer Vierergruppe die Teamleistung um bis zu 40 Prozent verschlechtern kann. Deswegen zögert man bei Netflix auch nicht lange, weniger leistungsstarke Mitarbeiter mit einer großzügigen Abfindung freizustellen. Hart, aber offensichtlich effektiv.
Sehr leistungsfähige Mitarbeiter entwickeln sich besonders gut in Umgebungen mit einer hohen Talentdichte.Reed Hastings und Erin Meyer
Ein weiteres zentrales Element der Netflix-Kultur ist Offenheit. Hastings und Meyer raten dazu, konstruktives Feedback fest im Unternehmen zu verankern und die Mitarbeiter zu ermutigen, ehrlich auszusprechen, was ihnen an ihrem Vorgesetzten gefällt und was nicht.
Die dritte tragende Kultursäule stellt der Verzicht auf Kontrollmechanismen wie Urlaubsregelungen oder Ausgaben- und Spesenrichtlinien dar. Nach Ansicht des Autorenduos führen die damit verbundenen Freiheiten zu einem höheren Verantwortungsgefühl der Mitarbeiter. Dennoch, so Hastings und Meyer, muss das Management gewisse Rahmenbedingungen abstecken. Werden diese nicht eingehalten, führt das zu einer sofortigen Entlassung.
Spätestens jetzt wird deutlich, dass Netflix alles andere als ein Schlaraffenland für Arbeitnehmer ist. Zwar sind die Freiheiten und Entscheidungsspielräume, die das Unternehmen seinen Mitarbeitern einräumt, durchaus bemerkenswert. Ebenso bemerkenswert sind allerdings auch die hohen Anforderungen, die der Streaming-Gigant an seine Mitarbeiter stellt, sowie die knallharten Konsequenzen, wenn sie diese nicht erfüllen.
Mehr hilft mehr
Das zeigt sich auch bei der weiteren Lektüre des Buches. Während im zweiten Teil der weitere Ausbau von Talentdichte, Offenheit und Regulierungsminimierung im Vordergrund steht, geht es im abschließenden dritten Teil darum, diese drei Grundpfeiler der Netflix-Kultur auf die Spitze zu treiben.
So greift das Unternehmen tief in die Tasche, wenn es darum geht, kreative Spitzenkräfte anzuheuern, um die Talentdichte weiter zu erhöhen. Laut den beiden Autoren setzt man auf die Devise „Klasse statt Masse“: Anstelle von mehreren mittelmäßigen Mitarbeitern wird eine Spitzenkraft eingestellt, die ein deutlich über ihrem persönlichen Marktwert liegendes Gehalt erhält. Dieses wird regelmäßig überprüft und ggf. nach oben angepasst. Regelmäßig überprüft wird Hastings und Meyer zufolge aber auch, ob alle Positionen noch mit den besten Spielern besetzt sind. Hierzu findet bei Netflix der „Keeper-Test“ Anwendung, bei dem sich Führungskräfte die Frage stellen, ob sie ihre Mitarbeiter umstimmen würden, falls diese morgen kündigen würden. Bei einem Nein droht – man ahnt es schon – die sofortige Kündigung.
Um mehr Transparenz zu schaffen, behandelt man die Mitarbeiter „wie Erwachsene“. Als Beispiel führen die Autoren an, dass die Angestellten so früh wie möglich über anstehende Reorganisationen oder mögliche Entlassungen informiert werden. Sobald Führungskräfte versuchen, Tatsachen zu beschönigen oder diese verdrehen, setzen sie das Vertrauen der Mitarbeiter aufs Spiel, erklären Hastings und Meyer. Darüber hinaus setzt man für maximale Offenheit auch Instrumente wie schriftliche 360-Grad-Beurteilungen und Live-360-Grad- Feedback ein.
Ihre Mitarbeiter sind nicht dumm. Wenn Sie versuchen, ihnen Dinge schönzureden, durchschauen sie es, und Sie stehen als Schwindler da.Reed Hastings und Erin Meyer
Eine hohe Talentdichte sowie eine Kultur der Transparenz sind nach Meinung des Autorenduos Grundvoraussetzungen für das bei Netflix gelebte dezentrale Entscheidungsmodell und die Führung durch Kontext. Jeder Mitarbeiter trifft demnach eigene Entscheidungen, ohne sich bei seinem Vorgesetzten absichern zu müssen. Das stärkt laut Hastings und Meyer nicht nur die Identifikation der einzelnen Mitarbeiter mit ihrer Arbeit, sondern auch die Innovationsfähigkeit des gesamten Unternehmens. Die Rolle der Führungskraft besteht für die beiden Verfasser insbesondere darin, die Teammitglieder mit allen notwendigen Informationen zu versorgen und eine gemeinsame Ausrichtung sicherzustellen.
Allerdings, geben Hastings und Meyer abschließend zu bedenken, lässt sich eine Unternehmenskultur nicht eins zu eins auf andere Kulturkreise übertragen. Nur mit intensiver Kommunikation sowie Neugier und Demut lässt sich eine Unternehmenskultur über Länder- und Kulturgrenzen hinweg aufrechterhalten, so die Autoren.
Businessbuch und Biografie in einem
Keine Regeln: Warum Netflix so erfolgreich ist ist nicht nur ein Managementratgeber, es ist zugleich auch die spannende Biografie von Reed Hastings. Zudem erhält der Leser viele Einblicke hinter die Kulissen des Streamingriesen. Beispielsweise erfährt er, wie ein vermeintlicher 4,6-Millionen-Dollar-Flop plötzlich doch noch einen Oscar einheimsen konnte oder weshalb es einem jungen, unbedarften Techniker zu verdanken ist, dass die 4K-Technologie nicht zum Rohrkrepierer wurde.
Gelungen ist auch das Zusammenspiel zwischen Hastings und Meyer. Dank kleiner Porträts weiß der Leser immer, wer gerade zu ihm „spricht“. Leider neigt Reed Hastings aber zu epischen Ausschweifungen und Wiederholungen. Hier wäre weniger manchmal mehr gewesen.
Ob man bei Netflix als Mitarbeiter anheuern möchte, muss am Ende jeder für sich selbst entscheiden. Unabhängig davon ist Keine Regeln aber ein ebenso unterhaltsames wie inspirierendes Buch und definitiv eine klare Leseempfehlung.