In tiefster Finsternis das Licht zu sehen, verlangt bemerkenswerte Weitsicht. Inmitten der Coronapandemie hegen WEF-Gründer Klaus Schwab und Co-Autor Thierry Malleret die Hoffnung, dass die Welt zusammenwächst und sich sozial und ökologisch erneuert. Dem will man in Zeiten der Not nur allzu gern Glauben schenken. Die Zukunft wird zeigen, ob ihre Vorausschau mehr ist als eine aktuelle Momentaufnahme, die unters Rad der Geschichte geraten ist.
Covid-19 verändert die Welt – hoffentlich zum Guten!
Pandemien als Treiber der Geschichte
Pandemien machen Geschichte. Das sagen Klaus Schwab, Gründer des Weltwirtschaftsforums (WEF), und Thierry Malleret, Analyst. Mit tiefem Blick ins historische Fach identifizieren sie Seuchen als Treiber gesellschaftlicher Veränderung. In den Umbrüchen entdecken sie neben Schlechtem auch Gutes: Krankheiten bringen Leid, aber auch Fortschritt. Darin ähneln sie Kriegen. Einen krassen Unterschied machen die Autoren in Pandemien aus: Diese lähmen die Wirtschaft, statt sie anzukurbeln.
Covid-19 hat als Verstärker bestehender Zustände gewirkt und langjährige Probleme, die aus tiefen, nie angemessen behandelten strukturellen Schwächen entstanden sind, in den Vordergrund gerückt.Klaus Schwab und Thierry Malleret
Neben vielen Parallelen zu Pest oder Cholera hat das Autorenduo schon vor Beginn der zweiten Welle eine Besonderheit ausgemacht: Covid-19 verschärft Krisen, die bereits angelegt waren. Nach der optimistischen Lesart der Ökonomen entsteht aus der heutigen Vernetzung die weltweite Chance, den Umbruch positiv zu gestalten. Neben der Interdependenz halten sie radikale Beschleunigung für einen Wesenszug unserer Zeit. Dabei treibt die Autoren der Kontrast gegenläufiger Entwicklungen um. Während die Welt komplexer wird, steigt die Wahrscheinlichkeit überraschender Ereignisse. Die Wahrnehmung der Bevölkerung folgt der Unmittelbarkeit der Onlinekultur. Umso ungeduldiger wird sie, wenn politische Mühlen langsam mahlen.
Die Schwächen des Westens
Leider stehen viele Institutionen des Westens als Versager da, wie die Autoren schonungslos urteilen. Covid-19 halten sie für eine Katastrophe mit Ansage. Länder Ostasiens haben aus der SARS-Epidemie gelernt und die Pandemie gut gemeistert. Die Ursache für die Schwäche westlicher Staaten verorten die Autoren im Neoliberalismus, der ihrer Ansicht nach nicht überleben wird. In Ländern mit individualistischer Haltung fehle, was zur Pandemiebekämpfung nötig sei: ein integratives Gesundheitssystem und Solidarität. Dem Zustand von Institutionen wie UNO, EU und Weltgesundheitsorganisation stellen die Autoren ein vernichtendes Zeugnis aus. Kein Land übernimmt die Verantwortung für weltweite Probleme, beklagen Schwab und Malleret.
Schub für Automatisierung und Digitalisierung
Dass die Arbeit in vielen Betrieben überhaupt weiterging, schreiben die Autoren dem Internet zu. Nach der Krise werden wir kontaktloser Interaktion weiter den Vorzug geben, glauben sie. Eine Wiederholung des historischen Beispiels der Pest im 14. Jahrhundert, als die Reallöhne wegen Arbeitskräftemangel stiegen, erwarten die Ökonomen nicht. Zu groß seien die Anreize zur Automatisierung, also zum Einsatz von Robotern und Software. Am stärksten betrifft das wohl den Dienstleistungssektor. Die Digitalisierung sehen sie nicht uneingeschränkt optimistisch. Die Überwachung könne gar dystopische Züge annehmen. So deutlich ihre Warnung ist, den Datenschutz nicht der Virusabwehr zu opfern, so fatalistisch gehen die Autoren davon aus, dass Kontrollen am Arbeitsplatz massiv zunehmen werden.
Der Staat greift durch
Die Autoren sind überzeugt, dass die Wirtschaft erst wieder floriert, wenn die Pandemie vorbei ist. Solange diese tobt, konsumieren und investieren die Menschen weniger. Die Pandemie stärkt, wie die Autoren zeigen, die Macht des Staates, etwa durch Konjunkturprogramme oder Staatsbeteiligungen. Digital- und Gesundheitsunternehmen identifizieren Schwab und Malleret als Gewinner der Pandemie. Autokonzerne, Versicherer, Banken und Energieversorger sehen sie unter Anpassungsdruck und erwarten nicht, dass die früher guten Zeiten für Airlines und Büroimmobilien zurückkehren. Entwarnung geben die Autoren an anderer Stelle: Obwohl der Nachfrageeinbruch finanzpolitisch beispiellos gekontert wurde, erwarten sie keine Inflation.
Wachsende Ungleichheit, soziale Unruhen
Covid-19 ist keineswegs ein großer Gleichmacher, stellen die Autoren klar. Benachteiligte Gruppen sind härter getroffen als privilegierte. Letztere können ihr Risiko im Homeoffice minimieren, während Geringverdiener am Krankenbett, an der Kasse oder bei der Müllabfuhr schuften. Schwab und Malleret sehen in der wachsenden Ungleichheit sozialen Sprengstoff und erwarten Unruhen. Die Sorge der Autoren gilt vor allem armen Ländern. Dort fehlen pandemiebedingt Einnahmen aus Tourismus, Rohstoffverkäufen und Geldtransfers. Bis zu 2 Milliarden Menschen leben in Ländern, die destabilisiert werden könnten.
Covid-19 hat uns daran erinnert, dass unsere größten Probleme die ganze Welt betreffen.Klaus Schwab und Thierry Malleret
Der Schutz des Klimas verlangt den Ökonomen zufolge einschneidendere Änderungen der Wirtschaftsweise als die Pandemie. Für sie ist erwiesen, dass die Gefahr weiterer Pandemien zunimmt. Abholzung zerstöre Artenvielfalt und zwinge exotische Tiere in die Nähe von Menschen. Darum sei die Zahl der Erreger, die vom Tier auf Menschen überspringen, stark gestiegen.
Naturkatastrophen und Pandemien
Anders als Naturkatastrophen, so bemerken die Autoren, vermindern Pandemien die Solidarität. Die Angst vor Ansteckung senkt die Bereitschaft, anderen zu helfen. Die Autoren nehmen auf der anderen Seite an, dass die Krise Menschen zu Kreativität beflügelt. Schon Newton, Shakespeare und Puschkin nutzten Isolation zu intellektuellen Höchstleistungen. Hoffnung setzen die Autoren auf die höhere Wertschätzung für die Umwelt und sinnvoll verbrachte Zeit. Sie geben aber zu, nicht zu wissen, wie lang die Bereitschaft zum Konsumverzicht anhält.
Der Umbruch hat schon begonnen
Die Autoren glauben, dass der Umbruch zum Besseren bereits begonnen hat. Führungspersonen sei klargeworden, dass sie mehr Kooperation benötigen. Einer globalen Ordnungspolitik weisen die Autoren die Aufgabe zu, Globalisierung ökologisch und sozial verträglicher zu gestalten. Sie halten die Zeit für einen neuen Gesellschaftsvertrag für gekommen, der solidarisches Verhalten fördert und sozialen Wandel ebenso einfordert wie Klimaschutz.
Es geht darum, die Welt weniger gespalten, weniger verschmutzend, weniger zerstörerisch, integrativer, gerechter und fairer zu machen, als wir sie in der Zeit vor der Pandemie hinter uns gelassen haben.
Klaus Schwab und Thierry Malleret
Manager sollten sich laut Schwab, der den Begriff geprägt hat, dem „Stakeholder-Kapitalismus“ zuwenden. Dieser verfolgt neben Effizienz auch soziale, ökologische und ethische Ziele. Diesen Fortschritt zu messen, dafür ist das Bruttoinlandsprodukt den Autoren zufolge der falsche Maßstab.