China fordert den Westen nicht nur wirtschaftlich heraus. Auch politisch und ideologisch verschärft sich aus Richtung Peking der Ton. Martin Winter zeigt, welche Strategie China verfolgt, um bis zum Jahr 2049 zur Weltmacht Nummer eins aufzusteigen, und weshalb nur ein starkes Europa dieses Vorhaben verhindern kann.
China als Bedrohung für die Freiheit
Auf Europa kommt es an
Zu Beginn seines Buches nimmt Martin Winter die Lesenden mit auf eine Zeitreise ins Jahr 2049: zur großen Heerschau anlässlich des 100. Geburtstags der Volksrepublik China. Der Autor zeichnet dabei ein aus europäischer Sicht düsteres Bild: Die EU ist seit rund 20 Jahren Geschichte, freiheitliche Demokratien werden nach und nach durch den „chinesischen Weg“ ersetzt und weite Teile der Welt sind inzwischen von China abhängig. Lediglich die USA werden aus Eigeninteresse vom „chinesischen Schwitzkasten“ verschont, wobei sie die veränderten globalen Kräfteverhältnisse tatenlos hinnehmen. Ob dieses dystopische Szenario Realität wird, hängt für den Autor stark von der künftigen Rolle Europas ab, das den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas bislang weitestgehend verschlafen habe. Die Kernbotschaft lautet: Wenn Europa nicht unverzüglich handelt, wird es immer mehr von China abgehängt. Es spielt damit dem chinesischen Ziel in die Hände, die USA bis Oktober 2049 als Weltmacht Nummer eins abzulösen.
Die neue Seidenstraße steht über allem
Zurück im Hier und Jetzt erläutert der freiberufliche Journalist und Publizist die Rolle Xi Jinpings beim kometenhaften Aufstieg Chinas. Im Gegensatz zu seinen zurückhaltenden Vorgängern, so der Autor, schlägt Xi sowohl innen- als auch außenpolitisch einen weitaus aggressiveren Kurs ein. Zwar sei Xi bestrebt, den allgemeinen Wohlstand anzuheben, um die Bevölkerung ruhigzustellen. Im Gegenzug werde das Volk jedoch einer totalen Überwachung unterworfen. Außenpolitisch steht dem Autor zufolge vor allem die Belt-and-Road-Initiative, die sogenannte neue Seidenstraße, im Zentrum des Geschehens. Dabei handelt es sich um einen kombinierten Land-See-Weg, durch den China eine größere Kontrolle über seine Versorgungsketten erlangen möchte.
China sieht die Welt bevorzugt so: Alle folgen dem globalen Projekt neue Seidenstraße.
Martin Winter
Im Zuge dessen investiert China weltweit in führende Technologieunternehmen und Infrastrukturprojekte und schreckt dabei auch nicht vor rabiaten Methoden zurück. Als Beispiele benennt der Autor die Drohung, Länder vom chinesischen Markt auszuschließen, sowie die sogenannte Schuldenfalle. Bei dieser gewährt China anderen Ländern projektbezogene Kredite, für die sie eigentlich zu arm sind. Können die Kredite dann nicht mehr bedient werden, bleibt meist keine andere Wahl, als das Projekt an China abzutreten.
Martin Winter versteht es, all das beeindruckend unaufgeregt und ohne unnötige Panikmache darzustellen. Dadurch wird die Gefahr, die insbesondere für Europa vom globalen chinesischen Masterplan ausgeht, beileibe nicht verharmlost. Erstaunlicherweise ist genau das Gegenteil der Fall.
Heute Asien, morgen die ganze Welt
Um zur Weltmacht Nummer eins aufzusteigen, muss sich das selbst ernannte „Reich der Mitte“ allerdings erst einmal die Vorherrschaft im asiatischen Raum sichern. Dazu setzt China laut Winter einerseits auf Investitionen und Kredite und lässt andererseits militärisch die Muskeln spielen. Lediglich bei den wirtschaftsstarken Konkurrenten Indien, Südkorea und Japan beißen sie damit auf Granit, so der Autor. Ihm zufolge hofft China im Fall Südkorea darauf, dass das Land durch eine mögliche Vereinigung mit Nordkorea neutralisiert wird, wohingegen man bei Japan auf eine Strategie der freundlichen Nachbarschaft setzt. Indien wiederum soll durch einen Schulterschluss mit dessen Erzfeind Pakistan das Leben schwer gemacht werden, erklärt Winter weiter.
Das chinesische Hegemonialbestreben geht ihm zufolge aber weit über den asiatischen Raum hinaus. Dabei stehen vor allem zwei Mächte im Fokus: die USA und Russland. Während China versuche, die USA aus dem Pazifikraum zurückzudrängen, möchte es Russland als Verbündeten gewinnen. Von zentraler Bedeutung hinsichtlich der Vorherrschaft im 21. Jahrhundert ist für den Autor die Positionierung Europas, die seiner Einschätzung nach stark von der Stabilität der USA abhängt. Letztere sei vor allem durch sprunghafte und unberechenbare Präsidenten gefährdet.
Die USA haben unter Trump überhaupt eine bemerkenswerte Neigung entwickelt, Peking in die Hände zu spielen.Martin Winter
An vielen Stellen in China 2049 zeigt sich, was sich in der Welt seit Erscheinen des Buchs im Jahr 2019 alles getan hat: Corona, die Abwahl von Donald Trump oder der Ukrainekrieg, um nur die wichtigsten Bespiele zu nennen. Das tut der Aktualität jedoch keinen Abbruch. Im Gegenteil: Zum einen zeigt der Ukrainekrieg, wie sehr China bemüht ist, den Schulterschluss mit Russland nicht zu gefährden. Zum anderen scheint es derzeit nicht ausgeschlossen, dass der „Trumpismus“ 2024 vor einem Comeback stehen könnte. Der Argumentation von Martin Winter zufolge wäre das ein Glücksfall für China, der es wahrscheinlicher machen würde, dass künftig ein russisch-chinesischer Block die globalen Spielregeln festlegt.
Es geht um unsere Freiheit
Weitere Gefahren drohen der westlichen Welt laut Martin Winter durch die Verharmlosung der militärischen Ambitionen Chinas. Sollte es im Pazifikraum zu einem Krieg kommen, könnte sich Europa kaum heraushalten, da auch Verbündete und Partnerstaaten darin verwickelt wären, so Winter. Aber auch das umfassende Hightech-Überwachungssystem, mit dem China seine Bürger und Bürgerinnen auf Schritt und Tritt kontrolliert, stellt für ihn eine ernsthafte Bedrohung für uns alle dar.
China schafft ein totalitäres System ganz neuer Art – einen süß-sauren Totalitarismus.Martin Winter
Schon heute arbeitet Peking Winter zufolge fleißig daran, die westlichen Grundwerte mithilfe umfassender Propagandastrategien zu unterminieren. Als Beispiele führt Martin Winter die finanzielle Bindung westlicher Universitäten an China an sowie die Versuche, sich in europäische Medienhäuser und Filmstudios einzukaufen. Insbesondere wirtschaftsschwache EU-Staaten verfallen gern der chinesischen Versuchung und lassen EU-Beschlüsse zu China im Gegenzug weich ausfallen, so der Autor.
Das Resümee von Winter: Um das westliche System zu verteidigen, muss Europa China geeint und entschlossen entgegentreten. Schlüsselrollen kommen dabei Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Spanien zu. Allzu viel Zeit bleibt allerdings nicht mehr, so der Autor. Bis 2030 werde sich zeigen, ob Chinas globale Strategie aufgeht oder nicht.
China 2049 ist ein packendes, teilweise verstörendes Buch, das schonungslos darlegt, wie sich die Welt immer mehr in den Schwitzkasten Chinas nehmen lässt. Andererseits zeigt es Wege auf, wie es gelingen kann, dem Druck aus Fernost erfolgreich standzuhalten. Seit der Veröffentlichung 2019 hat sich bereits einiges getan. So werden chinesische Investments, wie etwa die geplante Beteiligung des chinesischen Staatskonzerns Cosco am Hamburger Hafen, deutlich kritischer gesehen. Zudem hat der Ukrainekrieg gezeigt, dass Europa durchaus in der Lage ist, enger zusammenzurücken und an einem Strang zu ziehen. Diese Schritte gehen in die richtige Richtung und schüren die Hoffnung, dass wir auch 2049 noch auf einem freiheitlich und demokratisch geprägten Kontinent leben dürfen.