Aller guten Dinge sind drei?
Leben 3.0

Aller guten Dinge sind drei?

Abhandlungen über das Thema Künstliche Intelligenz (KI) gibt es mittlerweile wie Bits in einem Yottabyte. Doch Leben 3.0 von Max Tegmark braucht sich nicht hinter der Konkurrenz zu verstecken. Im Gegenteil – das Buch des schwedischstämmigen Physikers und MIT-Professors hat sogar das Zeug zum KI-Standardwerk.

Zugegeben, durch die einleitende Kurz-Dystopie mit dem Titel „Die Geschichte des Omega-Teams“ muss sich der Leser ein bisschen quälen. Zumindest wenn er ein faktenbasiertes Sachbuch zum Thema KI erwartet. Die besagte Geschichte lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Eine Elite-KI-Einheit setzt eine künstliche Superintelligenz namens Prometheus frei, welche nach und nach auf liebevolle Weise die Weltherrschaft übernimmt. Bis wann es eine vergleichbare künstliche Superintelligenz damit auch das „Leben 3.0“ tatsächlich geben wird, weiß derzeit noch niemand, so Tegmark. Optimisten glauben, es könnte noch in diesem Jahrhundert geschehen, andere halten das für illusorisch.

Leben 3.0 wird sich von der Evolution emanzipieren

Tegmarks Definition zufolge ist der Mensch die Blaupause für das „Leben 2.0“. Wir sind in der Lage, unsere „Software“ selbst zu programmieren, während der Bauplan für die „Hardware“ – also unser Körper – nach wie vor von der Evolution erstellt wird. Immerhin schon ein riesengroßer Fortschritt gegenüber „Leben 1.0“. In dem nämlich können einfache Lebewesen, etwa Bakterien, weder ihre Hardware noch ihre Software beeinflussen. Das „Leben 3.0“ besitzt hingegen die unschlagbare Fähigkeit, beide Komponenten eigenständig zu konzipieren.

Leben 3.0 wird sein eigenes Schicksal meistern und endlich vollständig von seinen evolutionären Fesseln befreit sein.

Max Tegmark

Der Physiker hat dabei allerdings nicht die heutige KI im Sinn, die uns beim Go-Spiel schlägt oder mal eben ein wenig bei der Memorisierung von Daten unterstützt. Tegmark denkt mindestens zwei Schritte weiter. Wenn es gelingt, eine KI zu konstruieren, deren Fähigkeit im Entwickeln von KIs die menschlichen Fähigkeiten übertrifft, wird das erreicht, was auch „Singularität“ oder „Intelligenzexplosion“ genannt wird. Mit dieser Intelligenzexplosion wären zwei Ziele zum Greifen nah, so Tegmark. Eine KI, die jede kognitive Aufgabe mindestens ebenso gut erfüllen kann wie ein Mensch, und eine universelle Intelligenz, die mit Zugriff auf die entsprechenden Daten praktisch jedes denkbare Ziel erreichen kann. Faszinierend und erschreckend zugleich.

Selbst wenn das alles noch ferne Zukunftsmusik ist, müssen wir heute schon beginnen, uns mit den potenziellen Chancen und Risiken zu beschäftigen, mahnt Tegmark. Etwa mit dem Gefahrenpotenzial KI-basierter autonomer Waffen oder den Vor- und Nachteilen von „Roborichtern“ in der Justiz, um nur einige Beispiele zu nennen.

Kosmisch gedacht sind wir fast schon am Ziel

Was bei der Lektüre von Leben 3.0 immer wieder positiv auffällt, ist Tegmarks sachlich-nüchterner und faktenbasierter Schreibstil. Er legt mögliche Szenarien dar, beleuchtet sie aus unterschiedlichen Perspektiven und gibt seine Einschätzungen hinsichtlich der Eintrittswahrscheinlichkeiten ab. Panikmache sucht man ebenso vergeblich wie den moralischen Zeigerfinger oder die ethische Keule. Selbst wenn es um heikle Themen wie die Koexistenz von Menschen und KI geht. In diesem Zusammenhang zitiert Tegmark auch mehrfach den umstrittenen austro-kanadischen Roboter- und KI-Forscher Hans Moravec, der dafür plädiert, dass wir die KI als unseren würdigen Nachfolger akzeptieren. Welche der vielen denkbaren Pfade wir im Hinblick auf das Zusammenspiel mit der KI am Ende einschlagen, hängt in erster Linie von unseren Zielen und Wünschen ab, sagt Tegmark. Noch haben wir es in der Hand, darüber zu entscheiden, wie unsere Zukunft mit KI aussehen wird.

 

Obwohl wir nicht vorhersagen können, ob und wie sich eine Intelligenzexplosion entfalten wird, ist dieser ganze Aufruhr nur ein kurzer Blitzschlag in der kosmischen Geschichte.

Max Tegmark

Apropos Zukunft: Verglichen mit den 13,8 Milliarden Jahren, die das Universum mittlerweile auf dem Buckel hat, ist die Zeitspanne von heute bis zur Intelligenzexplosion durch die KI in kosmischen Maßstäben ein Klacks, gibt der MIT-Professor Tegmark zu bedenken. Andererseits stecken wir hinsichtlich unserer technischen Errungenschaften – etwa bei der Energiegewinnung oder der Fortbewegungsgeschwindigkeit – im kosmischen Vergleich noch immer in den Kinderschuhen. Unsere Nachfahren werden den Kosmos erobern, schwarze Löcher in Kraftwerke verwandeln und ferne Galaxien besiedeln, prophezeit Tegmark. Wenn man bei der Lektüre unweigerlich Captain Picard und den Rest der Enterprise-Crew vor dem geistigen Auge hat, ist das kein Zufall: Das Gedankenexperiment zeigt eindrucksvoll, wie weit wir von solchen Szenarien noch entfernt sind.

Zurück im Hier und Jetzt setzt sich Tegmark am Ende seines Buchs mit dem Thema Bewusstsein auseinander. Zu den wichtigsten Fragen im Zusammenhang mit KI zählt für ihn die, welche Systemen wir mit einem Bewusstsein ausstatten wollen und welche lieber nicht. Bei aller Faszination für die künstliche Intelligenz erinnert er daran, dass es gerade das Bewusstsein ist, das der Existenz des Universums überhaupt einen Sinn verleiht. Seiner Bewahrung, so Tegmark, sollten alle unsere Bemühungen dienen.

Die entscheidende Aussage: Ich weiß es nicht

Leben 3.0 schafft es mit Bravur, wissenschaftliche Sachverhalte unterhaltsam und auch für Laien verständlich darzustellen. Max Tegmark zeigt, welche Auswirkungen künstliche Intelligenz auf verschiedene Gesellschaftsbereiche haben kann, ohne dabei Angst zu schüren oder übertriebene Euphorie zu verbreiten. Auch beschäftigt er sich eingehend mit ethischen und philosophischen Fragen, zum Beispiel wenn es um die Themen Kontrolle oder Bewusstsein geht. Diese Fragen bewertet er jedoch nicht. Es obliegt vielmehr dem Leser, sich darüber sein eigenes Bild zu machen. Und genau darum geht es Tegmark. Er will uns mit diesem Buch schon heute auf das Morgen vorbereiten und einstimmen – auf die Zeit, in der die künstliche Intelligenz der menschlichen deutlich überlegen sein wird.

 

Wenn wir nicht große Sorgfalt bei der Ausstattung mit menschenfreundlichen Zielen walten lassen, könnte es schlimm für uns enden.

Max Tegmark

Schätzungen, wann diese Zeit kommen wird (und ob es die Menschheit bis dahin überhaupt noch gibt), wären Stand heute vermessen und unseriös. Oder um es mit den Worten von Leutnant Commander Data zu formulieren: „Es gibt eine grundlegende und sehr wertvolle Aussage in der Wissenschaft, sie ist ein Zeichen von Weisheit und lautet: Ich weiß es nicht.“

Share this Story
Alle Rezensionen anzeigen