Die Vorzeige-Linke
Der Wahrheit verpflichtet

Die Vorzeige-Linke

Wer ist Kamala Harris? Zahlreiche Biografien, Zeitungsartikel, Podcasts, Dokumentationen und mittlerweile sogar Kinderbücher zeichnen das Bild einer durchsetzungsstarken Parteilinken, die vom Jurastudium direkt bis ins Amt der Vizepräsidentin marschiert ist. Einen persönlicheren Einblick gibt ihre Autobiografie Der Wahrheit verpflichtet.

Der Wahrheit verpflichtet ist kein neues Buch. Kamala Harris schrieb es im Jahr 2019, zwei Jahre bevor sie unter Joe Biden Vizepräsidentin der USA wurde. Lange bevor jemand ahnen konnte, dass sie 2024 gegen Donald Trump um die Präsidentschaft kämpfen würde. Ein hochaktuelles Programm findet man in dieser Autobiografie also nicht – dafür interessante Einblicke in Harrisʼ persönliche Geschichte und die Erfahrungen, die ihre Einstellungen geprägt haben.

Eine emotionale Lebensgeschichte

Schon im Vorwort findet man sich überraschend im Bett mit Kamala Harris wieder. Aber keine Sorge, natürlich bleibt der Ton US-amerikanisch professionell: Harris schreibt, dass ihr Mann morgens im Bett die Nachrichten lese. Daran, ob er dabei eher schmunzle oder genervt schnaube, könne sie ablesen, was für ein Tag es werde. 

Auch sonst menschelt es in dieser Autobiografie mehr, als man es vielleicht erwarten würde. Bereits auf den ersten Seiten fließen Tränen. Von Entsetzen bis hin zu überbordender Euphorie zündet Harris ein wahres Feuerwerk der Emotionen. Auf der Metaebene macht sie damit deutlich, dass sie Politik für echte Menschen machen will – nicht für erfolgsverwöhnte Business-Roboter.

Ich bin überzeugt, dass es kein stärkeres Mittel gegen das Gift unserer Zeit gibt als gegenseitiges Vertrauen. Wir schenken Vertrauen, und wir empfangen es zurück. Einer der Eckpfeiler jedes Vertrauensverhältnisse ist es, die Wahrheit auszusprechen.Kamala Harris

Natürlich erwähnt Harris die wichtigsten Stationen ihrer beruflichen Laufbahn. Dabei betont sie allerdings weniger die offiziellen Erfolge, Zahlen und Preise, die sie eingeheimst hat, sondern vielmehr ihre ideologischen Beweggründe. Sie erzählt zum Beispiel, was sie zu ihrem Jura-Studium motiviert hat: die Möglichkeit, Underdogs zu ihrem Recht zu verhelfen. Eines ihrer Vorbilder war, schon im Kindesalter, die Juristin Constance Baker Motley, die unter anderem Martin Luther King vor Gericht vertrat und zu einer Ikone der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung wurde.

Anwältin der Underdogs

Der Wahrheit verpflichtet ist ein Buch voller starker Momente. Harris beschreibt zum Beispiel, wie sie an einem ihrer ersten Arbeitstage am Gericht einen Bericht über eine Gruppe Menschen erhielt, die im Zusammenhang mit einer Razzia im Drogenmilieu festgenommen worden waren. Unter ihnen war eine Frau, die behauptete, mit den anderen nichts zu tun zu haben und nur zufällig am selben Ort gewesen zu sein. Da es Freitagnachmittag war und der Richter schon den Sitzungssaal verlassen hatte, musste die Gruppe bis zu einer Entscheidung am Montagmorgen in Sicherheitsverwahrung bleiben. Harris las, dass die Frau Kinder hatte. Wenn sie über das Wochenende nicht nach Hause käme, wer würde sich um die Kinder kümmern? Würde jemand das Jugendamt einschalten? Harris lief dem Richter hinterher und bettelte ihn förmlich an, die Frau nicht übers Wochenende gefangen zu halten. Der hatte ein Einsehen, und mit einem Hammerschlag war die Frau frei. 

Von der einfachen Anwärterin bis hin zur Generalstaatsanwältin von Kalifornien: Über alle Stationen ihrer Karriere hinweg legt Harris Wert darauf, der Leserschaft zu vermitteln, dass es ihr sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Politik vor allem um diejenigen geht, die in der Gesellschaft benachteiligt werden.

Die Erkenntnis, wie verkrustet und wenig sinnvoll weite Teile des Rechtsapparates in Kalifornien waren, brachte Harris schließlich dazu, sich weiter in Richtung Politik zu orientieren und im Jahr 2016 für den Senat in Washington zu kandidieren – unter anderem mit Unterstützung von Barack Obama und Joe Biden. Eine Außenseiterin ist Kamala Harris also auf keinen Fall – ein Detail, das dazu beiträgt, sie wie das Gegenteil von Donald Trump aussehen zu lassen. 

Das Gegenteil von Trump

Harrisʼ politische Ideen sind denen von Donald Trump ebenfalls diametral entgegengesetzt. Bei so gut wie jedem wichtigen Thema vertreten die beiden gegenüberliegende Pole – das betont Harris in ihrem Buch immer wieder: Sie ist für ein Recht auf Abtreibung, für strengere Waffengesetze, für einen Green New Deal, mit dem die USA effektiv auf die Klimakatastrophe reagieren sollen. Außerdem setzt sie sich dafür ein, private, profitorientierte Gefängnisse abzuschaffen und eher auf Rehabilitation als auf Abschreckung für Straftäter zu setzen. Nicht zuletzt ist ihr eine umfassende Krankenversicherung für alle ein wichtiges Anliegen.

,Für das Volkʻ – das war meine Richtschnur, und nichts nahm ich ernster als die Macht, über die ich nun als Staatsanwältin verfügte.Kamala Harris

Das übergeordnete Thema wird immer wieder deutlich: Jeder und jede soll in den Vereinigten Staaten gut leben können. Überhaupt porträtiert sich Harris in ihrem Buch als demokratische Vorzeige-Linke. Geschickt setzt sie dabei ihren Wahlspruch „Kamala Harris for the people“ ein. Das ist der Satz, den US-amerikanische Staatsanwälte zu Beginn einer Verhandlung sagen – aber eben auch eine knackige Zusammenfassung ihrer politischen Grundeinstellung. Sie erzählt ihr Leben als Geschichte einer Frau, die einer Minderheit angehört und sich für alle einsetzt.

Wo bleibt die Außenpolitik?

Insgesamt legt Harris ihr politisches Programm, eingebettet in ihre Lebensgeschichte, in ihrer Autobiografie überzeugend dar. Wer sich allerdings einen kritischen Blick bewahrt, dem wird auffallen, dass Harris zwar sehr viel über alle möglichen innenpolitischen Themen zu sagen hat, aber kaum je auf außenpolitische Themen eingeht. Wer etwa im E-Book nach dem Stichwort „China“ sucht, erhält als erste Treffer „Chinatown“ und „Chinarestaurant“. Aber gut – als Kamala Harris das Buch schrieb, wollte sie vermutlich einfach ihre Geschichte erzählen und plante noch nicht, eines Tages für das Präsidentenamt zu kandidieren.

Auch in den Rezensionen in der deutschsprachigen Presse ist man sich einig, dass Der Wahrheit verpflichtet ein solides und interessantes Werk ist. Den einen steckt zu wenig, den anderen zu viel Privates drin – aber die Autobiografie ist in jedem Fall angenehm zu lesen und leistet sicher, was sich der durchschnittliche Leser, die durchschnittliche Leserin erwartet: die Lebensgeschichte einer außergewöhnlichen Frau, interessante Einblicke in den Zustand der US-amerikanischen Gesellschaft und ihres Politik- und Rechtssystems sowie Hintergründe zu den politischen Positionen von Kamala Harris.

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