Emotionale Intelligenz: Drüberstehen
Emotionen sind aus dem Alltag nicht wegzudenken. Und auch im Arbeitskontext geht es nicht nur darum, die Emotionen Ihrer Mitarbeitenden zu verstehen, sondern in schwierigen Drucksituationen selbst die Ruhe zu bewahren. Wenn Sie sich von Problemen einnehmen lassen, sind Sie nicht nur unkonzentrierter bei der Arbeit, Sie verhalten sich womöglich auch Ihren Mitarbeitern gegenüber nicht korrekt. Das kann drastische Folgen für das Arbeitsklima haben.
Über Emotionen stehen
Bei dieser Herangehensweise an emotionale Intelligenz geht es darum, zu lernen, wie wir mit intensiven Emotionen generell, vor allem aber mit den schwierigsten aller Emotionen umgehen: den negativen. Denen, die gefährliche Gedankenspiralen auslösen können, deren Sog wir schnell erliegen.
Im Umgang damit lohnt es sich, einen Schritt zurückzugehen und unseren Emotionen gar nicht erst die Macht zu geben, die sie auf uns ausüben, wenn wir uns ihnen unreflektiert ausliefern. Wie fast alle Strategien zur Verbesserung der eigenen emotionalen Intelligenz fußt das Ganze auf mehr Achtsamkeit. Der klinische Psychologe Martyn Newman schreibt dazu:
Wir arbeiten in unserem Ansatz zur emotionalen Intelligenz zunächst mit Achtsamkeit. Der Kern der emotionalen Intelligenz ist schließlich die Fähigkeit, die eigenen Gefühle und Gedanken beobachten zu können.
Martyn Newman
Grundlage der Achtsamkeitslehre ist das persönliche Eingeständnis, eine zu rigide Vorstellung unserer Identität zu haben: Wir distanzieren unser Selbst kaum je von den Gefühlen, die wir haben, noch betrachten wir einzelne Aspekte unseres Lebens regelmäßig und bewusst aus neutraler Warte. Wir verspüren etwa keine Wut, wir sind wütend. Außerdem sehen wir uns als Resultat einzelner Rollen: Wir sind Mutter, Bruder, Partnerin oder Architekt – daneben gibt es nichts.
Beides ist äußerst gefährlich: Denn wen wundert es, dass wir uns in der Folge ganz unseren Gefühlen hingeben – oder dass wir sofort in eine Krise stürzen, wenn ein vermeintlich essenzieller Teil unseres Selbst wegzubrechen scheint, etwa durch eine Trennung oder einen Jobverlust?
Emotional intelligent zu handeln bedeutet also zu lernen, uns im richtigen Moment von unseren Emotionen zu distanzieren.
Klar: Emotionen haben wir alle, und völlige Objektivität ihnen gegenüber werden wir nicht erlangen. Aber wer sich unreflektiert (und vor allem: zu lang) mit ihnen auseinandersetzt, der versteift sich auf sie, lässt sich von ihnen beherrschen und ist am Ende unfähig, kluge Entscheidungen zu fällen.
Vor allem bei negativen Emotionen führt das dazu, dass wir vor lauter Bäumen irgendwann den Wald nicht mehr sehen – statt an Lösungen zu denken, verlieren wir uns in einem wachsenden Haufen aus Problemen. Davon zumindest gehen Psychologinnen und Psychologen aus, die die metakognitive Therapie praktizieren. Eine davon ist Pia Callesen.
Anders als Psychologen wie Steven C. Hayes oder Marc Brackett, die meinen, dass uns negative Gedanken oder Überzeugungen schaden und krank machen, geht Callesen davon aus, es seien nicht die Gedanken oder Überzeugungen selbst, die uns schaden, sondern unser Umgang mit ihnen.
Problematisch sind nicht die Inhalte unserer Gedanken, sondern unsere Gedanken über unsere Gedanken.
Unser Leben bietet viele Möglichkeiten, in negative Gedankenspiralen zu geraten. Wir können uns zum Beispiel davor fürchten, zu versagen, ein bedeutungsloses Leben zu führen, eine schlechte Mutter bzw. ein schlechter Vater zu sein, krank zu werden, keine Freunde zu finden, anderen zur Last zu fallen. Solche Gedanken nennt Callesen „Triggergedanken“. Sie können durchaus reale Ursprünge haben: Es kann die Angst vor einer Kündigung sein, die sich aufgrund schlechter Wirtschaftsaussichten vermeintlich abzeichnet, oder die Angst vor dem Verlassenwerden, weil die Kommunikation mit dem langjährigen Partner eingeschlafen ist. Werden wir mit solchen Gedanken konfrontiert, analysieren wir sie meist nicht kritisch, sondern lassen uns davon „mitnehmen“.
Die metakognitive Therapie, die dieses Problem in den Griff kriegen kann, erklärt den Verarbeitungsprozess von Gefühlen auf drei Ebenen unserer Psyche:
- Ebene: Gedanken und Emotionen, die kommen und gehen.
- Ebene: die Strategien, die wir wählen, um mit diesen Gedanken und Emotionen umzugehen.
- Ebene: unsere Überzeugungen über die Strategien, die wir wählen.
Im Kern geht es also darum, uns auf Ebene 3 selbst davon zu überzeugen, dass die Strategien, die wir auf Ebene 2 wählen, uns nicht guttun. Solche schlechten Denkgewohnheiten werden unter dem „Cognitive Attentional Syndrome“ zusammengefasst, zu Deutsch etwa kognitives Aufmerksamkeitssyndrom. Was diese Denkgewohnheiten kennzeichnet, ist, dass wir uns zu stark mit unserem emotionalen Innenleben auseinandersetzen. Entweder durch:
- Grübeln,
- Sich-Sorgen-Machen,
- andauernde Stimmungs-Checks
- oder ungeeignete Bewältigungsansätze, wie die Vermeidung von Situationen, die negative Emotionen auslösen, Gedankenunterdrückung usw. – denn auch damit lässt man negative Gedanken bzw. Emotionen nicht in Ruhe, sondern beschäftigt sich andauernd damit, sich nicht mit ihnen zu beschäftigen.
Es sind, so Callesen, diese Denkmuster, die die negativen Folgen haben; ein Burn-out etwa wird ausgelöst durch die negativen Gedanken, die wir uns andauernd über den Stress bei der Arbeit machen – nicht durch den Stress bei der Arbeit selbst.
Die zentrale These von Pia Callesen und vielen anderen ist also: Unsere Psyche reguliert sich selbst, wenn wir sie nur ruhen lassen.
So wie das Knie von alleine heilt, wenn wir die Wunde in Ruhe lassen und nicht an ihr rühren, wird auch unser Geist heilen, wenn wir vermeiden, dass die negativen Gefühle Raum gewinnen, indem wir
Pia Callesen
grübeln.
Theoretischer Hintergrund: metakognitive Therapie vs. kognitive Verhaltenstherapie
Brackett und Hayes praktizieren die kognitive Verhaltenstherapie. Ihr Ziel ist es, Personen dabei zu helfen, die eigenen Empfindungen und Gedanken möglichst gut zu analysieren, um negative kognitive Verzerrungen zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken. Callesen vertritt den Ansatz der metakognitiven Therapie. Sie ist eine Art Weiterentwicklung der klassischen kognitiven Verhaltenstherapie: Bei ihr geht es auch um kognitive Verzerrungen, allerdings nicht darum, sie zu hinterfragen und umzulenken, sondern darum, dass Betroffene merken, dass ihnen ihre negativen Denkmuster nichts nützen. Die metakognitive Therapie ist um einiges jünger: Adrian Wells begründete sie erst 1994 und Studien dazu deuten auf eine große Wirksamkeit hin. Beide Therapieformen werden meist bei Depression, Angst- oder auch Suchterkrankungen angewandt, ihre Ansätze können allerdings jedem Menschen helfen, besser mit schwierigen Emotionen umzugehen.
Emotional drüberstehen im Alltag
Wer sich seinen Gefühlen also nicht einfach ausliefert, gewinnt mehr Kontrolle über das eigene Denken. Wie lassen sich nun aber die negativen Denkgewohnheiten des kognitiven Aufmerksamkeitssyndroms ganz praktisch aufbrechen?
- Ein Mittel ist so simpel wie wirksam: Sie begrenzen die Zeit, die Sie mit diesen Denkmustern verbringen. Dazu machen Sie sich in einem ersten Schritt bewusst, wie viel Zeit eigentlich für diese negative Grübelei draufgeht. Sie notieren sich also beispielsweise einen Tag lang, wie lange Sie an einem Problem unproduktiv herumstudieren. Callesen meint, dass alles, was über 15 Minuten am Stück hinausgeht, zu lang und entsprechend schädlich ist: Sie haben dann keine neuen Erkenntnisse mehr, sondern drehen sich mental im Kreis und machen die negativen Emotionen so größer, als sie sind.
- Wenn Sie dennoch davon überzeugt sind, dass Sie das Grübeln brauchen, rät Callesen, dass Sie sich eine feste „Grübelzeit“ einrichten. Sie erlauben sich also, zu einer festgelegten Zeit zum Beispiel 30 Minuten lang zu grübeln. Aber eben nur dann. Zum einen zeigt Ihnen das, dass Sie das Grübeln kontrollieren – und nicht umgekehrt. Zum anderen werden Sie so sehen, dass, wenn Sie nicht jedem Grübelimpuls sofort nachgeben, sondern gewissermaßen auf Kommando grübeln sollen, Ihnen vielleicht sogar die Lust dazu oder das Bedürfnis danach fehlt. Sie brauchen das Grübeln also doch nicht so sehr, wie Sie dachten.
- Daneben sollten Sie sich klarmachen, dass Sie zwar Ihre Emotionen nicht steuern, aber immerhin kontrollieren können, wie viel Aufmerksamkeit Sie ihnen widmen. Also üben Sie das! Gehen Sie dazu an einen Ort, an dem Sie verschiedene Geräusche hören. Nehmen Sie diese Geräusche wahr, eines nach dem anderen, vier Minuten lang. Konzentrieren Sie sich dabei zehn Sekunden lang auf ein bestimmtes Geräusch. Danach springen Sie vier Minuten lang zwischen den unterschiedlichen Geräuschen hin und her. Bleiben Sie dabei nicht länger als vier Sekunden bei einem einzelnen Geräusch. Anschließend versuchen Sie zwei Minuten lang, Ihre Aufmerksamkeit gleichmäßig auf alle Geräusche zu verteilen. Wenn während der Übung negative Gedanken auftauchen, lassen Sie diese vorüberziehen.
- Aufmerksamkeit umlenken zu können, ist praktisch. Wenn Sie das können, lernen Sie danach, Ihre Gedanken passiv zu beobachten – in einem Zustand „losgelöster Achtsamkeit“, wie Callesen es nennt. Dazu machen Sie die „Tigerübung“: Stellen Sie sich so lebhaft wie möglich einen Tiger vor. Sie werden merken, dass Sie ihn passiv beobachten können, ohne bewusst an den Tiger zu denken. Vielleicht bleibt er stehen, geht umher oder verschwindet. Der Gedanke entwickelt also ein Eigenleben. Dasselbe gilt für Gedanken allgemein: Sie können sie einfach wahrnehmen, ohne sie zu unterdrücken oder festzuhalten. Und genau das sollten Sie mit schmerzhaften Gedanken tun.
Zur Unterstützung des Prozesses sollten Sie regelmäßig Achtsamkeitsübungen machen. Eine davon beschreibt Newman in seinem Buch:
- Atmen Sie tief durch die Nase ein und zählen Sie bis vier.
- Halten Sie dann die Luft an und zählen Sie dabei bis sieben.
- Anschließend atmen Sie durch den Mund aus und zählen bis acht.
- Wiederholen Sie diesen Atemzyklus achtmal.
- Wirklich.
Täglich durchgeführt reduziert diese Übung nachweislich Stress: Bewusstes Atmen ist nicht nur gesund, Sie werden damit auch ruhiger. Und beides hilft dabei, Problemen und negativen Emotionen gelassener zu begegnen. In Newmans Buch und in unserem getAbstract-Themenkanal finden Sie viele weitere Übungen zur Achtsamkeit:
Für wen ist passives Zurücktreten geeignet?
Dieser Ansatz hilft speziell Leuten, die immer wieder das Gefühl haben, sich in schmerzhafte Sackgassen zu denken – also Menschen, die eher zu viel als zu wenig über ihre Probleme grübeln. Sie profitieren aber auch von diesem Ansatz, wenn Sie sich immer wieder dabei ertappen, unangenehme Emotionen zu verdrängen, was selten gelingt und umso öfter lange Leidenszeiten nach sich zieht.
Take-aways:
- Wer sich nicht von seinen Emotionen überwältigen lässt, ist fairer zu Mitarbeitenden und bleibt in Krisen gelassen.
- Sowohl Achtsamkeit als auch Ansätze der Metakognitiven Therapie helfen dabei, über seinen Emotionen zu stehen.
- Dazu muss man sich bewusst machen, wie man für gewöhnlich mit negativen Emotionen umgeht und ob bzw. warum man diese Taktik für sinnvoll hält.
In einem Spektrum-Artikel wird der Forscher und Psychologe Keith Dobson zitiert, der davon ausgeht, dass die kognitive Verhaltenstherapie, wie sie Brackett und Hayes vorstellen, eher bei akuten Krisen wirksam ist und die metakognitive Therapie eher dabei hilft, chronische psychische Leiden anzugehen.
Besondere Relevanz für Führungskräfte
All das, was Sie eben gelesen haben, hat auch eine besondere Relevanz für Führungskräfte, denn sie dienen dem Rest einer Organisation als Vorbilder – und Vorbilder, die ihren Namen verdienen, aber ihre Emotionen nicht im Griff haben, gibt es schlechterdings nicht. Versetzen Sie sich zur Überprüfung Ihrer eigenen emotionalen Intelligenz deshalb in folgende Situationen, in denen Hektor, Petra und Dominik jeweils ihre Vorgesetzten sind:
- Hektor ist sofort gestresst, sobald ein Problem auch nur angedeutet wird, und verfällt sogleich in hektischen Aktionismus, den das ganze Team ausbaden darf. Erzählen Sie ihm von einer Unsicherheit, die Sie bezüglich eines Prozesses haben?
- Petra geht es offensichtlich privat nicht gut. Sie ist seit Wochen passiv und scheint eigentlich nur mit sich selbst beschäftigt. Fühlen Sie sich wohl dabei, sie mit einem Problem zu belästigen, das sich in Anbetracht dessen, was sie durchzumachen scheint, gar nicht mehr so wichtig anfühlt?
- Dominik reagiert oft impulsiv. Ist er wütend, sagt er schnell mal Dinge, die er nicht so meint, und ist gar nicht zugänglich für rationale Argumente. Auch wenn sein Ärger meist schon nach einer Stunde verflogen ist, dauert es immer seine Zeit, bis man mit ihm ein konstruktives Gespräch über eine Lösung führen kann. Wollen Sie vor Dominik einen Fehler zugeben – oder vertuschen Sie ihn lieber und hoffen, dass Sie damit durchkommen?
Sie sehen:
Wenn Sie als Führungskraft nicht in der Lage sind, über Ihren Emotionen zu stehen, können Mitarbeitende Sie nicht mehr ernst nehmen. So werden Fehler verschwiegen und wichtiges Feedback bleibt unausgesprochen; es findet keine lösungsorientierte Kommunikation mehr statt.
Im dritten und letzten Teil unserer Serie zur emotionalen Intelligenz erwartet Sie ein Ansatz, der Ihnen zeigt, wie Sie Ihre Emotionen für sich nutzen und dann auch emotional intelligente Entscheidungen treffen.