Wie moralische Organisationen möglich sind
Das System zurückerobern

Wie moralische Organisationen möglich sind

Wenn Menschen in Unternehmen keine Chance auf Verbesserungen sehen und sich als Rädchen im Getriebe betrachten, gerät die Moral schnell ins Abseits. Philosophieprofessorin Lisa Herzog zeigt, was Mitarbeitende, Organisationen und die Gesellschaft tun können, um der Moral zu ihrem Recht zu verhelfen. In ihrem Buch Das System zurückerobern macht sie den Menschen Mut, ihre Stimme zu erheben und sich nicht verbiegen zu lassen.

Organisationen sind keine seelenlosen Systeme 

Organisationen, meist in Form von Unternehmen, spielen für uns alle eine große Rolle im Leben. Mit weltweit operierenden Großunternehmen wie Google sind Organisationen, die sich kaum noch von Nationalstaaten eindämmen lassen, längst Teil unseres Alltags. Und doch sind auch diese Unternehmen keineswegs im moralfreien Raum unterwegs, argumentiert die Philosophieprofessorin Lisa Herzog. Organisationen müssten nicht zwangsläufig seelenlose Systeme sein, in denen moralisches Handeln keinen Platz hat. Es sei an der Zeit, „das System zurückzuerobern“ und Organisationen und Unternehmen zu Orten zu machen, an denen moralische Normen eine Rolle spielen, fordert Herzog.

Wir müssen Umgebungen erschaffen, in denen ganz normale Menschen, mit ihren typischen Fehlern und Tendenzen zu moralischem Fehlverhalten, dennoch moralisch handeln können.

Moralisch handeln könne der Mensch jedoch nur dann, wenn seine Organisation so strukturiert ist, dass sie moralische Verantwortung fördert. Herzog nennt als markantes Beispiel die Organisation von Krankenhäusern. Die Arbeit sei dort oft so organisiert, dass die Mitarbeitenden keine Chance hätten, verantwortungsvoll zu handeln. Oftmals arbeiten sie aufgrund des Personalmangels unter so hoher Belastung, dass Fehler vorprogrammiert sind, argumentiert die Professorin. Und diese Fehler können im schlimmsten Fall Leben kosten.

Was passiert, wenn sich moralische Normen allmählich zersetzen, belegt Herzog mit einem eindrucksvollen Beispiel: Die Challenger-Katastrophe von 1986 ereignete sich demnach nur deshalb, weil sich die Wahrnehmung der Risiken verändert hatte. Obwohl bekannt war, dass die Dichtungsventile der Raumfähre bei niedrigen Temperaturen nicht richtig funktionierten, wurde die Starterlaubnis erteilt – schließlich war in allen Tests nichts Gravierendes passiert. Also akzeptierte die NASA-Führung das Risiko, warf Sicherheitsbedenken über Bord – und in der Folge starben sieben Menschen.

Regeln schützen vor Fehlentscheidungen, können aber auch ungerecht sein

Herzog betont die Wichtigkeit von Regeln. Diese helfen dabei, die Arbeit zu koordinieren. Sie schaffen Verlässlichkeit und schützen vor Fehlentscheidungen, etwa wenn Mitarbeitende schnell und ohne ausreichende Informationen entscheiden müssen. Außerdem klären Regeln Verantwortlichkeiten und helfen dabei, moralisches Verhalten einzufordern, so die Analyse der Autorin. Wer sich zum Beispiel auf klare Regeln zu Sicherheitsstandards berufen könne, könne sich leichter gegen Kollegen durchsetzen, die eine Sicherheitsüberprüfung für nicht so wichtig halten.

Mit einem eher außergewöhnlichen Beispiel belegt Herzog ihre These, Regeln könnten in Einzelfällen zu moralisch falschen Entscheidungen führen. Wenn etwa eine alleinerziehende Mutter zum zweiten Mal durch eine Prüfung falle und demnach ihre Ausbildung ohne Abschluss beenden müsse, könne es falsch sein, sich hier allein auf die Ausbildungsregeln zu stützen. Laut Herzog müsste auch die persönliche Situation dieser Person beachtet werden. Vielleicht ließ ihr die Familie zu diesem Zeitpunkt einfach nicht die nötige Zeit zur Prüfungsvorbereitung.

Die Identifikation von Mitarbeitenden mit ihrem Unternehmen hat Grenzen 

Herzog räumt auch mit dem Mythos auf, Mitarbeitende sollten sich möglichst stark mit ihrem Arbeitgeber identifizieren. Dies versperre den Blick auf Probleme. Am besten sei ein Mittelweg zwischen totaler Identifikation und Ignoranz, eine kritische Loyalität. Mitarbeitende sollten sich durchaus um das Schicksal ihres Unternehmens sorgen, dabei aber immer grundlegenden moralischen Normen verpflichtet bleiben, fordert Herzog.

Für diejenigen, die ihre Fähigkeit zu moralischem Handeln bewahren wollen, ist die vollständige Identifikation mit der eigenen Rolle kein erstrebenswertes Ideal, sondern eher ein Fallstrick.

Moralisches Handeln könne nur dann gedeihen, wenn die Menschen ihren Mund aufmachen können, ohne Nachteile zu befürchten. Davon profitiert laut Herzog das Unternehmen. Verlassen nämlich integre Mitarbeitende die Organisation, bleiben über kurz oder lang nur noch solche Mitarbeitende, die abgestumpft oder für Moralfragen nicht empfänglich sind.

Die Moralfrage in Unternehmen strahlt Herzog zufolge aber weit über das Firmengelände hinaus. Organisationen und ihre Mitglieder sind in gesellschaftliche Kontexte eingebettet. Diese bestimmen laut Herzog, wie groß die moralische Last ist, die auf Organisationen und Individuen liegt. Es sei Aufgabe der Gesellschaft, Strukturen zu schaffen, die diese Last so gering wie möglich halten. Außerdem müsse die Gesellschaft Menschen unterstützen, die große Risiken eingehen, um für ihre moralischen Werte einzutreten. Hier kommen einem Whistleblower wie Edward Snowden oder Chelsea Manning in den Sinn.

Unternehmen sollten ihre Mitarbeitenden nicht einfach nach Belieben entlassen können, argumentiert Herzog. Wer unter dem Druck eines Hire-and-Fire-Systems arbeite, werde weder das persönliche Interesse haben, bei seinem Unternehmen Verbesserungen anzustoßen, noch werde er es wagen, den Mund aufzumachen. 

Ein weiteres Problem, auf das die Autorin hinweist, ist der Trend zur Privatisierung. Krankenpflegekräfte sollten nichts als das Wohl der Patienten und Patientinnen im Sinn haben müssen, Lehrkräfte sollten sich allein um die Bildung der Schüler und Schülerinnen kümmern dürfen.

Das Wirtschaftssystem neu organisieren

Die Frage, wie wir das System zurückerobern können, lässt sich letztlich umformulieren: Wie soll unser Wirtschaftssystem organisiert sein? Die mächtigsten Wirtschaftsakteure seien allesamt Aktiengesellschaften, so Herzog. Hier habe der Aktionär großes Mitspracherecht, obwohl er sich jederzeit von seinen Aktien trennen könne. Besser sei es, so Herzog, mehr Macht in die Hände der Arbeitnehmenden zu legen, die ein längerfristiges Interesse am Wohlergehen einer Firma hätten.

Herzogs Vorschlag: Profitorientierte Unternehmen, aber auch Plattformen könnten in Genossenschaften umgewandelt werden. Plattformunternehmen hätten meist geringen Kapitalbedarf und relativ wenige Mitarbeitende. Sie könnten also leicht genossenschaftlich betrieben werden. Der Staat könne demokratische Strukturen am Arbeitsplatz unterstützen, indem er demokratischen Unternehmen Steuererleichterungen oder Subventionen gewährt. Solche Unternehmen würden moralische Normen viel leichter einhalten können als profitorientierte Aktiengesellschaften, meint die Professorin.

Allerdings: Die Berichte über die harten Arbeitsbedingungen bei zahlreichen noch jungen Lieferdiensten lassen diese Idee sehr abstrakt erscheinen. Die Absicherung der Mitarbeitenden in einem etablierten Unternehmen samt Betriebsrat dürfte oftmals besser sein als bei den jungen Plattformunternehmen, deren Gründer nicht selten gegen Initiativen zur Gründung eines Betriebsrats vorgehen.

Lisa Herzog ist Professorin an der philosophischen Fakultät und dem Center for Philosophy, Politics and Economics der Universität Groningen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört Ethik in Organisationen.

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